Fressen oder gefressen werden

Schau dich um, sieh dir dein Leben an. Das bist du, ein Zahnrad in der Gesellschaft, eingebettet in einen Rhythmus aus Arbeit, Essen, Schlafen, sozialem Leben, Beziehung. Alles so, wie es bei den meisten Menschen ist. Vollkommen normal halt. Mal bist du glücklicher, mal ist das Leben ein bisschen kompliziert, aber darauf hast du dich eingelassen. Dann kommt der Tag, der dein ganzes Leben verändert.
Dabei rede ich jetzt nicht nur von einer Kleinigkeit, die deinen Rhythmus verändert. Nein, was ich meine, ist ein so massiver Einschnitt, der die Frage aufwirft, wessen Leben du gerade lebst, denn deines kann es unmöglich sein. Kannst du dir das vorstellen? Wahrscheinlich nicht. Wie auch?! Aber dafür gibt es die Fiktion, um uns zu zeigen, welche ungeahnte Wendung im Verborgenen lauert und welche Art ein Leben zu Leben es noch geben könnte.

Und so beginnt es: Menschen, die ihrem Alltag nachgehen, Stress mit der Ex und dem gemeinsamen Kind, Stress auf der Arbeit, nichts im Kühlschrank. Arbeiten, essen, schlafen, Familienleben – alles stocknormal. Dann, eines Morgens, steht vor der Haustür eine braune Holzkiste, etwas größer und flacher als ein Schuhkarton, ziemlich schlicht, mit einer dezent eleganten Optik. In der Kiste befindet sich das Foto einer Person, sowie Name, Datum und Uhrzeit in der nahen Zukunft – das ist die Zielperson, das ist die Deadline. Unter dem Foto liegen eine Schusswaffe und ein Magazin auf rotem Samt gebettet. Nun muss diese Person innerhalb der gesetzten Frist getötet werden, sonst werden Geheimnisse preisgegeben und/oder ein Familienmitglied bedroht. Erpressung ist das Mittel zum Zweck. Es ist ein perfides Spiel, hinter dem die Drahtzieher – die Watcher – stehen und alles zugunsten des Entertainments steuern. Die Staatsgewalt scheint mit drinzuhängen, das Haus, das Auto, das Telefon sind verwanzt, jeder Schritt ist vorausgeahnt, ein niederträchtig tödliches „kill-or-be-killed“-Spiel.
Und jetzt kommt der Twist: Jeder Spieler ist nicht nur als Jäger angesetzt, sondern ist ebenfalls das Ziel eines anderen Spielers. Für diese Menschen, die Genötigten, gibt es keinen Ausweg. Durch Drohungen in diese Situation gezwungen, werden sie zu den Marionetten einer Unterhaltungsbranche außerhalb der Norm. Hier beginnt der tatsächliche Kampf ums Überleben und überleben lassen. Immer im Versuch aus dieser unvorstellbaren Situation hinauszukommen, ohne ein Leben zu nehmen und gleichzeitig selbst am Leben zu bleiben, wird das Gefecht gegen Schemen eröffnet.

Das ist Chosen.

Es ist nicht falsch, wenn die Serie als etwas beschrieben wird, dass dein Gleichgewicht durcheinanderbringt. Chosen zeichnet ein Bild von kaputten, zerfressenen Seelen, die auf Messers Spitze balancieren und den ersten Tropfen Blut bereits verloren haben. Das Kreuzfeuer nimmt keine Rücksicht auf Unschuldige, vielmehr scheinen sie die Münzen für den Fährmann bereits in der Tasche zu haben. Ein Netz aus Lug und Trug spannt sich über den Bildschirm, Misstrauen trieft aus den Boxen und Unbehagen schmirgelt über die Netzhaut.

Diese amoralische Intensität der Serie lässt die Nerven vibrieren und einen makabren Geschmack zurück. Es wird eine kaputte Gesellschaft aufgezeigt, bei der die Frage nach dem Warum zentral sein müsste. Das gestaltet sich allerdings schwierig im Angesicht der Tatsache, dass jede Episode nur zwanzig Minuten umfasst und eine Staffel aus sechs Episoden besteht. Glücklicherweise gibt es mittlerweile drei Staffeln, die erste läuft am 2. Februar 2015 um 22.10 Uhr beim Sender 13th Street an. Jeweils in einer Abfolge von drei Episoden am Stück wird den Zuschauern dann die Gelegenheit gegeben, dem Warum nachzugehen – und dieser Versuch ermöglicht zu verstehen, weshalb diese Menschen in solch ausweglose Situationen gebracht werden, warum sie privat wie öffentlich unter ständiger Beobachtung stehen und damit jeder Mord zu einer Unterhaltungseinlage für eine unsichtbare Obrigkeit wird. Durch die Hoffnungslosigkeit der Protagonisten wirkt die aufgenötigte Gewalt wie die einzige Lösung und hierin liegt die Schwierigkeit des Formats.

Einerseits ist die Bildmacht wichtig, um den Unterhaltungswert zu gewähren, andererseits agieren dort Menschen, deren letzter Ausweg dieser Gewaltakt gegen einen anderen Menschen ist. Das Dargestellte versucht sich an einer Brutalität, die so echt wirkt in dem Unrecht, das diesen Menschen wiederfährt. Nötigung, Schmerz und Tod hervorzubringen ist in sich schwer ertragbar – für die Protagonisten ebenso wie für den Zuschauer. Plötzlich liegt ein Hauch Realität über den Emotionen.

Jene Gratwanderung hat bei der FSF-Programmprüfung von Chosen zum dem Ergebnis geführt, dass die Thrillerserie für ein Publikum ab 16 Jahren (Spätabendprogramm 22.00 – 23.00 Uhr), wenige Episoden gar erst für ab 18-Jährige und somit für die Ausstrahlung im Nachtprogramm (ab 23 Uhr) freigegeben wird.

Zur ausführlichen ProgrammInfo auf der FSF-Website geht es hier.

Der Sender 13th Street darf die Sendung auch schon vor 22.00 bzw. 23.00 Uhr ausstrahlen, weil er als Pay-TV-Anbieter eine Jugendschutzsperre aktivieren kann, die von den Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. Somit gelten die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen nicht. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.“

Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir jede Woche neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehprogramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern vorgelegt werden.

Über Tabea Dunemann

Tabea studierte Theaterwissenschaft und Ethnologie an der Universität Leipzig. Dank wohlgesonnener Professoren konnte sie außerdem viele andere Disziplinen erkunden und war u.a. lange Zeit für das Studierendenradio mephisto 97.6 tätig. In ihrer Freizeit textet Tabea Dunemann gern für den fsf blog und war auch als Redakteurin für die tv diskurs tätig.