The Sopranos – Schuld ohne Sühne? Die Moral der Mafia

Die renommierten, hochwertig produzierten US-Fernsehserien wie The Sopranos, Six Feet Under, 24 oder Breaking Bad haben wegen ihrer erzählerischen Qualität, aber auch, weil sie dank DVD und Blu-Ray wie audiovisuelle Romane rezipiert werden können, bei Fernsehjournalisten1, Kulturkritikern2 und Filmemachern3 ein positives Echo ausgelöst. Die kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten und Gestaltungsmitteln steckt allerdings immer noch in den Anfängen und geht oft über eine bloße Beschreibung nicht hinaus. Wie gelingt es durch die Erzählstrukturen der Serie, dass das Publikum auch gewalttätige Hauptfiguren mit Empathie, manchmal sogar Faszination durch bis zu 100 Stunden Film begleitet? Welche Botschaften vermitteln hierbei die Serienerzählungen, welche ethischen Handlungsanweisungen geben sie den Zuschauern? Wie gestalten sie Gewaltdarstellungen und welche Moraltransfers finden in diesen Zusammenhängen an das Publikum statt? Auf diese und ähnliche Fragen möchte die Artikelserie, die heute ihre Blogpremiere feiert und nachfolgend mit exemplarischen Analysen zu Gewalt und Moral in der Mafiafamilienserie The Sopranos beginnt, einige Antworten geben und dadurch die kritische Auseinandersetzung mit der Erzählsubstanz aktueller TV-Serien befeuern.

Die Moral der Mafia

Tony Soprano (James Gandolfini) ist ein Gewalttäter, ein gewalttätiger Krimineller. Im System der New Yorker Mafia ist er ein mittelgroßer Boss, ein Capo. Mit einer Gruppe von Gangstern betreibt und organisiert er im nördlichen New Jersey Schutzgelderpressung, illegale Wetten und Glücksspiele, Erpressung und Betrügereien. Auch vor Mord schreckt die Gang nicht zurück.
T. – wie er von seinen untergebenen Gangmitgliedern genannt wird – befehligt einen Männerbund, der militärisch organisiert ist. Die wichtigsten Gangmitglieder sind: Paulie (Tony Sirico), ein äußerst gewaltbereiter, psychopathischer Gangster, Silvio Dante, genannt Sil (Steven Van Zandt), der als Tonys Ratgeber und „Consigliere“ den Nachtclub führt, dessen Hinterzimmer den Mafiosis als Treffpunkt dient, schließlich Christopher Moltisanti (Michael Imperioli), T.’s „Neffe“, der am Beginn seiner Mafiakarriere steht und im Laufe der sechs Staffeln und sieben Serienjahre (1999 – 2006) durch zahlreiche Gewaltakte die Anerkennung als Gangster durch T. und die alteingesessenen Gangster sucht und nur schwerlich findet. T.’s Gangmitglieder sehen sichallesamt als „Soldaten“, die Befehle empfangen und ausführen. Hierbei ist T. sozusagen naturwüchsig in die Position des Anführers hineingewachsen. Er hat die Mafia geschäfte von seinem Vater übernommen. Doch während T. am Beginn der Serie nicht in die Rolle eines größeren Bosses hineinschlüpfen möchte, also keine Aufsteigerkarriere im Mafiasystem anstrebt und diesen Part zunächst seinem Onkel Junior (Dominic Chianese), dem Bruder seines Vaters, überlässt, bringen ihn Juniors Überheblichkeit und schließlich dessen Verhaftung durch das FBI dazu, doch die Karriereleiter in der Mafia hochklettern zu wollen.

The Sopranos: Sky Atlantic HD
The Sopranos: Sky Atlantic HD

Das Triebmittel des Mafiasystems ist das Geld, Geldgier das wichtigste Motiv des Mafiosi. T. schreckt daher auch nicht davor zurück, beispielsweise den spielsüchtigen Vater einer Schulkameradin seiner Tochter Meadow (Jamie-Lynn Sigler) ebenso in die Schulden zu treiben wie bei seinem guten Freund, dem Restaurantbesitzer Artie Bucco (John Ventimiglia), dessen Schulden brutal eintreiben zu lassen.

Dass Mord schlecht fürs Geschäft ist, weiß T. nur zu gut. Eine Mordanklage könnte ihn lebenslänglich ins Gefängnis oder sogar auf den elektrischen Stuhl bringen. Mord ist für T. daher nur die allerletzte Möglichkeit, um eine Situation, die ihm gefährlich werden könnte, zu bereinigen. Wenn er allerdings ein Todesurteil fällt, geht er eiskalt und brutal vor wie in der Folge Reise in die Vergangenheit (Staffel 1, Episode 5). Hier erkennt er während einer Reise mit seiner Tochter Meadow, mit der er ein College besichtigen will, zufällig einen früheren Mafiosi wieder, der ihn einst verraten hatte und dann untergetaucht ist. Er erdrosselt die „Ratte“ mit einer Brutalität, die seine hohe physische Bereitschaft zum Töten zeigt. Es ist das erste Mal in der Serie, dass der Zuschauer T. unmittelbar als Mörder erlebt. Es wird später zu beleuchten sein, wie es in der Seriendramaturgie gelingt, T. trotz dieser brutalen Tat, die in einer längeren Naheinstellung realistisch und direkt gezeigt wird, als Hauptfigur für die „Gunst“ des Zuschauers zu „erretten“. Für die Argumentation hier ist entscheidend, dass T. bei diesem Mord der Moral der Mafia folgt, den moralischen Regeln einer auf Gewalt begründeten Geheimgesellschaft, die für Verrat nur die Todesstrafe kennt.

Tödliche Rache an Verrätern ist das Gesetz der Mafia, aus der die Sopranos-Macher nicht wenig dramatisches Potenzial, aber auch den psychologischen Kern der Charakterführung ihrer Hauptfigur schöpfen: T. weiß, dass seine Mafiaorganisation von FBI-Spitzeln infiltriert ist. Er selbst ist trotz seiner oberflächlichen Tarnung als Müllentsorgungsunternehmer ein stadtbekannter Mafiosi und wird vom FBI beobachtet. Er weiß, dass er von der Bundespolizei jederzeit abgehört werden könnte bzw. abgehört wird. Daher ist T. stets auf der Hut und spricht mit seinen „Soldaten“ grundsätzlich nur in Andeutungen, wenn er Befehle erteilt. Auch traut er nur wenigen in seiner Gang und wird selbst hier immer wieder überrascht, beispielsweise, als er herausfindet, dass sein langjähriger Vertrauter Pussy Bonpensiero (Vincent Pastore) zu den „Feds“ übergelaufen ist. Gemeinsam mit Paulie und Sil ermordet er ihn und „begräbt“ ihn auf hoher See, nachdem er sich in Pussys Haus zuvor zweifelsfrei von dessen Spitzeltätigkeit überzeugen konnte (vgl. Staffel 2, Episode 13). Zuvor war T. schon durch den Albtraum während einer Lebensmittelvergiftung mit der Wahrheit konfrontiert worden – mit einer Wahrheit, die er immer schon geahnt hatte, aber nicht wirklich wahrhaben wollte (vgl. Staffel 1, Episode 11 ff.). Denn: T. weiß, dass ihn dieser Mord noch lange beschäftigen wird. Und in der Tat verfolgt ihn Pussy nun noch lange in seinen Träumen, die gespeist werden aus den Schuldgefühlen eines Mafiosi (vgl. exemplarisch Staffel 3, Episode 10). Das also ist einer der Tricks der Sopranos-Macher, um uns als Zuschauer den Gewalttäter T. „bei Laune zu halten“: T. leidet unter seinen Taten, hat Panikattacken, wird von Schuldgefühlen geplagt und besucht daher – damit beginnt die Serie – eine Psychiaterin, die Gesprächstherapeutin Dr. Jennifer Melfi (Lorraine Bracco).

Anmerkungen:
1 TV-Spielfilm, 25/2013, S. 10 ff.
2 Diedrichsen, D.: The Sopranos. Zürich 2012
3 Graf, D.: Homicide. Zürich 2012

Und morgen geht es weiter, mit The Sopranos – Schuld ohne Sühne? Die Moral des Soziopathen.
Mehr zu The Sopranos gibt es in unserer Blogrubrik Lieblingsserie. Hier schreibt Uli Wohlers Von Blowjobs, Wildentenfutter und Helden, die wir verdienen.

Wer sich nicht bis morgen, und bis zur Fortsetzung gedulden kann – dieser Beitrag erschien in der aktuellen tv diskurs und steht in voller Länge auf tvdiskurs.de zum Download zur Verfügung. Wer die preisgekrönte Serie noch nicht kennt, kann sich ab dem 27. März selbst ein Bild machen. Sky Atlantic strahlt die erste und zweite Staffel ab diesem Datum in der Wiederholung aus.

Über Werner C. Barg

Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Kino und Fernsehen. Außerdem ist er Regisseur von Kurz- und Dokumentarfilmen sowie Filmjournalist. Seit 2011 betreibt er als Produzent neben seiner Vulkan-Film die herzfeld productions im Geschäftsbereich der Berliner OPAL Filmproduktion GmbH. Zusätzlich engagiert sich Werner Barg als Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.