Die dunkle Seite der Macht

Wie so viele andere bahnbrechende Erfindungen ist auch das Internet Fluch und Segen zugleich.

Am 9. Februar 2016 ist Safer Internet Day.

In der Menschheitsgeschichte hatten große Erfindungen oft auch ihre Schattenseiten. Die friedliche Kernspaltung führte zu den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und das von Alfred Nobel in bester Absicht erfundene Dynamit hat vor 150 Jahren die Kriegsführung entscheidend verändert. Jüngstes Produkt auf der Liste „Fluch und Segen“ ist das Internet.

Weil soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube die Menschen vor gut zehn Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Medien in die Lage versetzten, eigene Inhalte problemlos massenhaft zu verbreiten, wurden mit dem „Worldwide Web“ geradezu messianische Hoffnungen verbunden. Viele dieser Erwartungen haben sich erfüllt. Gerade in Diktaturen ist der Beitrag des Internets zur Demokratisierung offenkundig, weil Dissidenten nun die Chance haben, sich unbemerkt vom Regime miteinander zu vernetzen und eine Gegenöffentlichkeit einzurichten. Überall dort, wo das Internet nicht von den Machthabern blockiert wird, können sich die Bürger aus erster Hand informieren. Seit der Einführung von Smartphones haben die Menschen theoretisch jederzeit und überall Zugang zu einer Menge an Informationen. Kein Gehirn kann so ein umfangreiches Wissen speichern; Universalgenies wie einst Gottfried Wilhelm Leibnitz oder Isaac Newton wären heute hoffnungslos überfordert. Die Etablierung des Internets als Massenmedium markiert daher das offizielle Ende der „Gutenberg-Galaxis“, in der das Buch das uneingeschränkte Leitmedium war.

Heute ist praktisch das gesamte Welterbe, soweit es digitalisiert werden kann, abrufbar. Das hat allerdings auf der anderen Seite zu einer gewissen Entwertung von geistigem Eigentum geführt. Im Netz ist Kultur scheinbar kostenlos, was beispielsweise die Musikindustrie an den Rand des Ruins gebracht und dazu geführt hat, dass Songs millionenfach angehört werden, die Künstler aber kaum einen Cent dafür bekommen. Der Fortschritt hat allerdings noch einen weiteren Preis. In diesem Fall ist es ein Ideal, für das schon viele Menschen ihr Leben geopfert haben: die Freiheit. Kaum jemanden scheint zu kümmern, dass weltweit operierende Geheimdienste unbegrenzten Zugriff auf alle nur denkbaren Daten haben, von der Sammelwut eines Konzerns wie Google ganz zu schweigen. Bedenkenlos geben gerade junge Menschen im Netz ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung preis; ihre Eltern sind dafür noch auf die Straße gegangen, als sie Ende der 1980er-Jahre gegen die Volkszählung demonstriert haben.
Was damals wie Science-Fiction geklungen hätte, ist heute Wirklichkeit: Wer die Macht im Netz hat, beherrscht die Welt. Tatsächlich gibt es kaum einen Lebensbereich, den das Internet noch nicht durchdrungen hat. Dank vernetzter Fernsehgeräte, deren Mikrofone und Kameras sich mit nötigem Fachwissen leicht manipulieren lassen, ist die einst von George Orwell ersonnene düstere „Big Brother“-Vision mit Überwachungsfernsehern in jeder Wohnung längst Realität geworden; in den Kinderzimmern erfolgt der Lauschangriff mithilfe von „Barbie“-Puppen. Unverbesserliche Stasi-Veteranen sind überzeugt, dass sie den Untergang der DDR verhindert hätten, wenn es diese Möglichkeiten schon vor 1989 gegeben hätte.

Das Phänomen der sozialen Netzwerke hat ebenfalls seine dunkle Seite. Auch wenn viele Eltern der Meinung sind, dass ihre ständig aufs Smarthpone starrenden Kinder kostbare Lebenszeit mit WhatsApp verschwenden: Grundsätzlich sind die digitalen Netzwerke eine tolle Sache, denn sie bieten völlig neue Möglichkeiten, Freundschaften zu pflegen oder aus den Augen verlorene frühere Weggefährten aufzustöbern. Informationen finden eine rasend schnelle Verbreitung; deshalb hat die Münchener Polizei ihre Terrorwarnung an Silvester unter anderem über Twitter und Facebook ausgegeben. Es gibt jedoch auch Netzwerke ganz anderer Art. Im rechtsfreien Darknet, auf das gängige Suchmaschinen keinen Zugriff haben, tummeln sich Gestalten, die der Bezeichnung dieses Bereichs (dunkles Netz) alle Ehre machen. Hier ist eine digitale Parallelgesellschaft entstanden, in der islamistische Mörderbanden ihren europäischen Nachwuchs rekrutieren und Päderasten ungestört ihr Material austauschen können.
Doch auch im offenen Netz tun sich Abgründe auf. Wer die Geräte seiner Kinder nicht mit entsprechender Jugendschutz-Software versehen hat, muss damit leben, dass sie problemlos Zugriff zu harten Pornoseiten und grausamen Gewaltvideos haben. Während Verschwörungstheorien früher meist harmlos oder unfreiwillig komisch waren, lassen Demagogen heute gezielt Falschmeldungen kursieren, um Stimmung gegen Asylbewerber zu machen. Besonders beliebt sind Berichte über vermeintliche Verbrechen von Flüchtlingen. Weil Nachfragen bei der Polizei in der Regel ergeben, dass die Vorwürfe aus der Luft gegriffen sind, gibt es auch keine Berichte in den klassischen Medien; die wiederum werden prompt als „Lügenpresse“ beschimpft, weil sie angeblich die Wahrheit verschweigen. Ohne das Netz würde es diesen Hetzbegriff gar nicht geben.

Und während dank des Internets auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder Bewohner ländlicher Gegenden an den meisten Errungenschaften des modernen Lebens teilhaben können, ist es andererseits dank der digitalen Globalisierung zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich, mithilfe von Computerviren ganze Staaten ohne jede Form von Gewaltanwendung in die Knie zu zwingen. Doch auch scheinbar harmlosere Delikte können die Wirtschaft Unsummen kosten. Die Digitalisierung von Daten und die damit verbundenen kinderleichten Vervielfältigungsmöglichkeiten hätten beinahe die komplette Musikindustrie in den Ruin getrieben. Der Handel mit Raubkopien neuer Hollywoodproduktionen ist ebenfalls ein einträgliches Geschäft, das die Filmindustrie viel Geld kostet.
Ähnlich betroffen sind die klassischen Medien, allen voran die Tageszeitungen: Weil es viele Informationen kostenlos im Internet gibt, ist die Zahl der Menschen, die ihre Zeitung auf Papier lesen, stark gesunken. Aber wer Zeitungen oder Nachrichtenmagazine liest, setzt sich fast zwangsläufig auch mit Positionen auseinander, die er zunächst nicht teilt; auf diese Weise erweitern die Menschen seit Generationen ihren Horizont. Wer sich sein Wissen dagegen ausschließlich im Internet zusammenklaubt, begibt sich von vornherein nur auf Seiten, die seinem Weltbild entsprechen. Auf diese Weise wird der individuelle Horizont immer kleiner, weil man sich irgendwann bloß noch im Kreis bewegt; das widerspricht sämtlichen Theorien zur Intelligenzentwicklung. Dennoch ist das Internet ohne Frage eine der größten Errungenschaften der Menschheit; umso wichtiger wäre es, dass Kinder so früh wie möglich lernen, wie man den größten Nutzen daraus zieht. Der jährlich im Februar begangene SAFER INTERNET DAY (diesmal am 9. Februar) soll vor allem die Lehrenden daran erinnern, in dieser Hinsicht nicht lockerzulassen.

Über Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist Journalist und Autor. Er lebt und arbeitet in Allensbach am Bodensee. Als freiberuflicher Medienfachjournalist sowie Fernseh- und Filmkritiker arbeitet er für Fachzeitschriften wie epd medien, Blickpunkt:Film, tv diskurs, das Internetportal tittelbach.tv und diverse Tageszeitungen. Schwerpunktgebiete seiner Arbeit sind Fernsehfilme, Programmentwicklung, Formatfernsehen, Jugendmedienschutz und Kinderprogramme.