Manches war früher wirklich besser

Meine Frau stammt aus Polen, aus einem kleinen Ort östlich von Łódź. Als wir uns kennenlernten und sie mir von ihrer Heimat erzählte, suchte ich anschließend auf der Karte sogleich nach dem Ort. Und nach seiner Entfernung zu Poddembice. Poddembice ist mir immer in Erinnerung geblieben als der Ort, in dem zu Beginn der 40er-Jahre ein Deutscher von den Nazibehörden als Bürgermeister eingesetzt wurde. Unter dem Pseudonym Hohenstein hielt dieser Mann seine Eindrücke und Erlebnisse in einem Tagebuch fest.

Er nannte sich Hohenstein-DVD. Ein Film von Hans-Dieter Grabe © absolut Medien GmbH
Hans-Dieter Grabe: „Er nannte sich Hohenstein“ © absolut Medien GmbH

Hans-Dieter Grabe hat daraus einen Dokumentarfilm gemacht. Es war 1995, als ich Er nannte sich Hohenstein zum ersten Mal im ZDF sah. 40 Jahre war Hans-Dieter Grabe beim Zweiten Deutschen Fernsehen angestellt. Mehr als 60 Filme realisierte er in dieser Zeit. Er nannte sich Hohenstein trägt den Untertitel Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940 – 1942 und war damals eines der ersten Täterportraits im deutschen Fernsehen.

Es ist ein gänzlich unspektakulär erzählter Dokumentarfilm, Tagebucheinträge werden darin von einem Sprecher zitiert, darüber wird – relativ wenig – historisches Film- und Fotomaterial eingeblendet. Die übrige Bebilderung besteht aus langen Einstellungen und Kamerafahrten, die den Ort des Geschehens heute und damals zeigen. Trotz dieser simplen, unaufgeregten Umsetzung ist Hohenstein bis heute in meinem Gedächtnis haften geblieben und noch immer präsent als einer der stärksten Dokumentarfilme, die ich je gesehen habe. Auch wegen dieser ruhigen Gestaltung, vor allem aber wegen der Aussage, der Stärke des Textes, der dank der geduldigen Inszenierung Grabes eine besondere Wirkung entfaltet, der zum Nachdenken geradezu anregt.

Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland. Dokumentarfilm von Hans-Dieter Grabe © absolut Medien GmbH
„Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland“ © absolut Medien GmbH

Filme wie Hohenstein werden heute nicht mehr fürs Fernsehen gedreht. Sie sind so nicht mehr möglich, weil Dokumentationen – auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – von den Redaktionen „auf Linie gebracht“ werden, zumal wenn sie von Ereignissen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs handeln. Sie müssen formell wie erzählerisch einer Norm entsprechen: Interviews mit Zeitzeugen sind eigentlich nur dazu da, die vom Autor schon vorab ausformulierten Thesen zu unterstreichen.

Vor einiger Zeit traf ich einen Übersetzer, der in einer Fremdsprache geführte Zeitzeugeninterviews fürs ZDF ins Deutsche transkribiert. Er erzählte mir, wie die Zeitzeugen oft durch die Art der Befragung auf eine Aussage hingeführt, geradezu gedrängt werden. Wie im fertigen Film manchmal nur noch Bruchstücke des ursprünglichen Zitats übrig bleiben und einzelne Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden. Was nicht passt, wird passend gemacht.
Bei Hans-Dieter Grabe hätte es eine solche Zurechtbiegung nicht gegeben. Eine derartige Verfälschung wäre ihm ein Graus gewesen. Weder Inhalt noch Form hätte er je über seine Geschichten, schon gar nicht über seine Protagonisten gestellt.

Natürlich ist das gewissermaßen Jammern auf hohem Niveau: Bei den Privaten gibt es kaum nennenswerte Geschichtsformate. Doch das kann ich tolerieren, denn RTL und Co. wollen in erster Linie Geld verdienen. Die Öffentlich-rechtlichen haben dagegen einen festgelegten Bildungsauftrag, da muss man die Latte schlichtweg höher legen.

Grabe ging 2002 in Ruhestand. Einen wie ihn, der für ein Thema eintrat, ungeachtet irgendwelcher Formatkonformitäten oder Quotenaussichten, haben sie sich beim ZDF seither nicht mehr geleistet. Nicht mehr leisten wollen.

Später prägte Guido Knopp den Dokumentarstil im Zweiten. Nicht zum Besseren. Inzwischen ist auch er im Ruhestand, aber seine etablierte Form des Dokutainments ist im Mainzer Sender noch immer allgegenwärtig. Von ihm initiierte Formate wie ZDF-History sind im Grunde nichts anderes als eine Resterampe, meist zusammengeklöppelt aus Archivmaterial, dennoch durchaus unterhaltsam und – in ihren besseren Momenten – erhellend gemacht. Alles schön und gut. Doch hat man einen Film dieser Reihe gesehen, hat man ihn fünf Minuten später auch schon wieder vergessen. Das ist der Unterschied zwischen Knopp und Grabe, zwischen quotenstrebendem Dokutainment und qualitätsorientiertem Dokumentarismus.

Hans-Dieter Grabe © absolut Medien GmbH
Hans-Dieter Grabe © absolut Medien GmbH

Vom Autor sind weitere Artikel rund um das Thema „Film“ in der tv diskurs erscheinen, z.B. Intime Einblicke für die Öffentlichkeit. Wenn Filmemacher Aspekte ihres eigenen Lebens dokumentieren. Weitere Beiträge erhalten Sie über die Autorensuche im Medienachiv: http://fsf.de/medienarchiv/suche/

Über Jens Dehn

Jens Dehn studierte Film- und Theaterwissenschaft sowie Kulturanthropologie an der Universität Mainz. Seit 2007 arbeitet er als freier Journalist für Print- und Onlinemedien und schreibt hauptsächlich über Film und Fernsehen.