Fiktionalität

Wenn eine Geschichte mit der Phrase „es war einmal“ eingeleitet wird, wissen wir eines sofort: Das Folgende hat sich nie tatsächlich ereignet, denn mit dieser Formel beginnen Märchen. Wichtig an der Formel ist weniger das Wörtchen „war“, was als Realitätsbehauptung missverstanden wäre, sondern das Wort „einmal“ – typisch für Märchen ist ihre zeitliche (und räumliche) Unbestimmtheit.

Geschichten richtig zu verstehen, das setzt ein hohes Maß an kultureller Kompetenz voraus, zumal wir nicht nur von einer unübersehbaren Menge an Geschichten umgeben sind, sondern auch von einer unübersehbaren Menge an unterschiedlichen Typen von Geschichten. Wann immer wir mit Menschen reden, es werden Geschichten ausgetauscht. Wenn wir Medienangebote nutzen, geht es fast immer um Geschichten – natürlich in Fernsehkrimi und Daily Soap, in Actionfilm und romantischer Komödie, aber auch in Nachrichtenmeldungen und Wetterbericht, in Talkshow und Dokumentarfilm werden Geschichten erzählt, ebenso in Quiz und Fußballspiel. Alle diese Typen von Geschichten haben einen unterschiedlichen Realitätsgehalt, aber irgendetwas haben alle mit Realität zu tun. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, nämlich Art und Intensität, die im Zusammenspiel eine Vielzahl von Realitätseffekten hervorrufen können.

Einen besonders intensiven Realitätsbezug weist beispielsweise ein Dokumentarfilm auf, der seine inszenatorischen Eingriffe möglichst gering halten möchte, aber auch ein Fußballspiel, dessen tatsächlicher Verlauf den Kern der erzählten Geschichte darstellt – etwa über einen Kampf David gegen Goliath oder über heldenhafte Taten einzelner Akteure. Einen auf den ersten Blick besonders geringen Realitätsbezug haben Erzählgenres wie Fantasy oder Science-Fiction, für die gerade die Distanz zu empirischer Realität kennzeichnend ist. Auf einen zweiten Blick kann diese Distanz aber durch einen spezifischen Typ von Realitätsbezug kompensiert werden – durch die Glaubwürdigkeit oder Wahrhaftigkeit der Geschichte hinter der Geschichte, ihrer „Botschaft“ oder „Moral“.

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© FSF

Jede Geschichte hat drei essenzielle Bestandteile: Sie braucht erstens Akteure, also handelnde Personen, die sich zweitens zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Orten aufhalten und dort drittens etwas tun. Der Begriff „Fiktionalität“ kommt dann ins Spiel, wenn wenigstens einer dieser drei Bestandteile wenigstens teilweise keinen unmittelbaren Bezug zu empirischer Realität hat, also ausgedacht ist. Die umständliche Formulierung soll andeuten, dass bereits kleine kreative Interventionen ausreichen, um aus einer Geschichte eine fiktionale Geschichte zu machen. Bei einem Dokudrama beispielsweise, das tatsächliche Ereignisse filmisch nacherzählt, werden Ereignisse gerafft oder in anderer zeitlicher Anordnung präsentiert, Akteure werden von Schauspielern dargestellt, neben belegten tatsächlichen Akteuren kommen erfundene Figuren zum Einsatz. Auch historische Filme und Filmbiografien kombinieren Gewusstes, Vermutetes und Erfundenes in eigener Inszenierung und sind daher fiktional.

Im fiktionalen Normalfall sind alle drei Bestandteile erfunden: Ausgedachte Charaktere (in audiovisuellen Produktionen von Schauspielern dargestellt) treten an ausgedachten Orten in einer ausgedachten Handlung auf. Gleichzeitig ist im fiktionalen Normalfall die Nähe zu empirischer Realität, also der dem anvisierten Publikum vertrauten Realität, jeweils sehr hoch. Zwar existieren etwa alle Fernsehkommissarinnen und -kommissare nur inihren Sendungen, aber sie könnten theoretisch auch tatsächlich bei der Polizei arbeiten. Die von ihnen zu lösenden Fälle sind zumindest bei großzügiger Interpretation hinlänglich glaubhaft – wie auch die Orte, an denen sie sich ereignen. Das heißt, Fiktionales ist zwar ausgedacht, aber mit lebensweltlichen Erfahrungen des Publikums kompatibel – das Erzählte ist zwar nicht passiert, es könnte aber passiert sein.

Auch in Genres mit vordergründig geringem Realitätsbezug ist Glaubwürdigkeit unbedingt erforderlich: Nicht nur eine Fernsehkommissarin, auch eine Fee oder Hexe muss einer nachvollziehbaren Eigenlogik folgen; auch ein Roboter oder ein Außerirdischer muss sich so verhalten, wie es dem Vorstellungshorizont des Publikums entspricht.
In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass „fiktional“ und „fiktiv“ sehr unterschiedliche Phänomene meinen. „Fiktiv“ ist etwas Erfundenes, das Adjektiv „fiktional“ bezeichnet zwar auch etwas Ausgedachtes, das aber als fiktionales Medienangebot (Buch, Film etc.) real ist. Die Figur „Harry Potter“ ist fiktiv, die Harry-Potter-Romane sind dagegen fiktional. Noch komplizierter wird es, wenn Autoren mit der Differenz zwischen beidem spielen. 1972 veröffentlichte etwa der Science-Fiction-Autor Norman Spinrad den Roman The Iron Dream (deutscher Titel: Der stählerne Traum). Der fiktionale Text The Iron Dream ist jedoch nur die Ummantelung eines fiktiven Textes: des Romans Lord of the Swastika (Der Herr des Hakenkreuzes), verfasst von Adolf Hitler, der in einer Parallelwelt 1919 in die USA auswanderte und dort als Comiczeichner und später als Science-Fiction-Autor Karriere machte. Die deutsche Übersetzung von Norman Spinrads antifaschistischer Satire wurde von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften 1982 als faschistische Propaganda missverstanden und zunächst indiziert, erst 1985 wurde das Urteil aufgehoben. Durch eine Vielzahl hybrider Angebotsformen ist „Fiktionalität“ gerade in den letzten Jahren zu einem kontroversen Thema geworden. Genres wie Dokusoap, Castingshow und Scripted Reality bedienen sich freizügig bei fiktionalen Inszenierungsstrategien, da zwar das Leben die besten Geschichten schreiben mag, das Hollywood-Kino diese Geschichten aber am besten erzählen kann. Außerdem ist die Vorstellung, man könne fiktionale ganz einfach von nonfiktionalen Medienangeboten unterscheiden, schon immer eine Illusion gewesen: Selbst die Brüder Lumière hatten ihre dokumentarischen Kurzfilme inszeniert.

Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs 3/2015 Ausnahmezustand. Unser Umgang mit medialen Darstellungen von Krisen und Katastrophen erschienen und steht auf unserer Website als Download zur Verfügung.

Über Gerd Hallenberger

Dr. phil. habil. Gerd Hallenberger forscht als freiberuflicher Medienwissenschaftler über Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).