Keine Angst vor Berlin

Der französische Soziologe Francesco Masci ist enttäuscht von Berlin. Warum? Wir wissen es nicht. Wurde er zu oft vor dem Berghain von eisig-wortlosen Türstehern abgewiesen? Hat er hier eine Arbeit nicht vollenden können? Oder hat er einfach nicht den Berlinmythos gefunden, den er gesucht hat? Auf jeden Fall klingt sein kleines Buch Die Ordnung herrscht in Berlin wie ein Desillusionsroman. Seine zentrale These lautet: Berlin ist eine postpolitische Stadt, in der das Regime der totalen Kultur herrscht. Historische Kulissen werden, bedeutungsentleert, hin und hergeschoben, die Stadt ist eine hedonistische Spielwiese für digitale Flaneure und Bierflaschenpassanten, aber kein Ort substanzieller Prozesse. Und unter dieser glamourösen Oberfläche waltet eine eisige, höchst effiziente Machtverwaltung, die Demokratie ist nur noch fauler Budenzauber.

An diese Diagnose muss man denken, wenn man sich als Prüfer der FSF des Agententhrillers The Berlin File (2013) annimmt. Es ist ein südkoreanischer Actionfilm, der in Berlin spielt. Da bekämpfen sich nord- und südkoreanische Agenten. Über den Dächern von Berlin toben Stahlgewitter, die hiesige Polizei bekommt von alledem nichts mit und der FSF-Berlin-Prüfer freut sich über die zahlreichen Stadtschauplätze, die er kennt, weil er findet, dass denen im Alltag sowieso die Action fehlt. In Südkorea war der Film ein Kassenhit, sieben Millionen Zuschauer, in Nordkorea sah ihn naturgemäß niemand. Ein paar deutsche Schauspieler dürfen mittun, Thomas Thieme spielt einen extrem schmierigen Schurken.

Die Freiwillige Selbstkontrolle Kino hat den Film ab 16 Jahren freigegeben, dem FSF-Prüfausschuss liegt nun eine gekürzte Fassung vor, alle Art von Knochen- oder Genickbrüchen, allzu heftig klaffende Wunden oder grandiose Körpertreffer wurden vorsorglich entfernt, schließlich soll der Film im Hauptabendprogramm gezeigt werden. Die physische Tortur, die die Helden erleiden, soll also den Zuschauer ab 12 Jahren weder verängstigen noch ihn zu gleichen Heldentaten stimulieren. Der Ausschuss findet, dass die Bearbeitung gelungen ist, wenngleich in dieser Feststellung ein Trauermoment mitschwingt, denn jeder weiß, das Actionfilme, die ihrer Actionspitzen „beraubt“ wurden, kaum noch Actionfilme sind. Aber auch der Rest ist noch ganz ansehnlich.

Die umfangreiche Bearbeitung wurde also als entlastend gewertet, ebenso die Alltagsferne und filmische Zuspitzung der Geschichte. Viele der Kampfszenen waren deutlich choreographiert und so übertrieben actionhaltig und über ein reales Maß hinaus, dass bereits Zuschauer ab 12 Jahren dieses Übermaß, dieses bigger-than-life als klares Fiktions- und Abenteuersignal lesen können. Was der „Held“  Jongsŏng alles ein- und wegsteckt, was er gegen jede Wahrscheinlichkeit alles überlebt, erinnert sehr an die unverwundbare Elastizität einer Comicfigur. Hier geht es um eine rasante Achterbahnfahrt im Actiongenre, das in erster Linie verblüffen und staunen machen soll, das aber weniger auf Ängstigung abzielt. Als distanzierendes Moment wurde auch der politisch-kulturelle Konflikt zwischen Nord- und Südkorea gewertet, der für hiesige Kinder und Jugendliche in seinem Ausmaß kaum zu verstehen ist. Die Figuren in diesem Actionfilm waren flach und unzugänglich, eine tiefere emotionale Anbindung des Zuschauers an die „Helden“ erscheint nicht realistisch, zumal alle Figuren durch graue Ambivalenzen gekennzeichnet und somit keine eindeutigen Sympathieträger sind. Das trifft auch auf die Frau des Protagonisten zu, die zuletzt getötet wird. Da der Liebesbund des Ehepaares über weite Strecken als Zweckbündnis erscheint und somit sehr nachgeordnet erzählt wird, erscheint ihr Tod für Zuschauer zwischen 12 und 15 Jahren durchaus verkraftbar zu sein, diese Frauenfigur ist in diesem männlich dominierten Genrekosmos nur eine Hintergrundfigur.

Ist Berlin wirklich entpolitisiert? Herrscht hier ein effizientes Kulturregime? Vielleicht ist dieser Thriller, auch wenn er ein Kulturprodukt ist, doch ein Zeichen für eine andere Lesart. Eine sozialethische Desorientierung konnte der Prüfausschuss auch deshalb nicht erkennen, weil der Genrefilm den nordkoreanischen Feind nicht grundsätzlich abstempelt, diskriminiert. Eher waltet hier – zwischen den Gefechten – ein Aussöhnungswunsch. Berlin ist ein magnetisch-diplomatischer Ort, der in die Gegenwart hineinerzählt und fordert, dass Mauern überwunden werden können. Der zeigt, dass der Kalte Krieg keine endlose Geschichte sein muss, dass Entspannungspolitik nottut und dass eine Stadt, die Flaneure und Phantasten anzieht, zumindest keine waffenklirrende Hauptstadt ist, die nach Weltherrschaft lechzt. Da lassen wir uns die Friedrichstraße auch gerne von den Nordkoreanern zerschießen.

Tele 5 strahlt den Actionthriller heute Abend zur Primetime um 20.15 Uhr aus.

Die FSF  gab den senderseitig bearbeiteten Agententhriller für Zuschauer ab 12 Jahren verbunden mit einer Ausstrahlung im Hauptabendprogrammm ( 20.00 – 22.00 Uhr) frei. Zur ausführlichen ProgrammInfo auf der FSF-Website geht es hier.

Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir jede Woche neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehprogramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern vorgelegt werden.

Über Torsten Körner

Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin. Während des Studiums erste journalistische Arbeiten. Nach Abschluss des Studiums Promotion über ein film- und kulturwissenschaftliches Thema. Seither freier Autor für verschiedene Medien. Diverse Veröffentlichungen, verschiedene Jury-Tätigkeiten. Als Fernsehkritiker meistens in Funk-Korrespondenz, epd medien und Der Tagesspiegel unterwegs. Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen.