Selbstmord in Serie

Seit ihrem Start Ende März sorgt die beliebte Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht, die in den USA unter dem Titel 13 Reasons Why ausgestrahlt wird und auf dem gleichnamigen Jugendroman von Jay Asher basiert, für kontroverse Diskussionen. Die Themen: (Cyber-)Mobbing, Vergewaltigung, Selbstmord, Drogen- und Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen,  gleichzeitig aber auch Freundschaft und die erste Liebe. Brisante, aber für Jugendliche realitätsnahe Probleme mit Identifikationspotenzial. Für Eltern und Erwachsene zugleich eine Chance, einen Einblick in die Lebens- und Gedankenwelt von Teenagern zu bekommen.

„Tote Mädchen lügen nicht“

Kurz nach dem Selbstmord seiner Mitschülerin Hannah Baker erhält der introvertierte Clay Jensen eine Box mit Kassetten. Hannah nennt darauf 13 Gründe für ihren Selbstmord und widmet die Kassetten den Personen, denen sie die Mitschuld gibt.

Wer oder was ist verantwortlich für den Tod von Hannah? Diese Frage steht mit jeder neuen Kassette im Mittelpunkt der Erzählung. Doch schließlich kristallisiert sich heraus, dass es nicht diesen einen Grund gibt. Es ist die Summe der Ereignisse – das Mobbing, der sexuelle Übergriff, der Vertrauenslehrer, die Mitschüler – selbst dem liebenswerten Clay wird eine Kassette gewidmet. Viele der Szenen sind auch für Erwachsene nur schwer zu ertragen.

In Tote Mädchen lügen nicht wird der Selbstmord mit einer Vielzahl von Gründen versucht zu erklären, wofür das Format zu Recht gelobt wird. Die Macher verpassen jedoch, psychische Probleme, Depressionen oder Hilfsmöglichkeiten zu thematisieren – Hannahs Selbsttötung wird letztlich als vermeintlich einziger Ausweg dargestellt. Durch die Schuldzuweisungen auf den Kassetten springt die Erzählung zwischen Racheakt und Weckruf.

Während die Macher der Serie betonen, Aufmerksamkeit und Bewusstsein für sensible und schwierige Themen schaffen zu wollen und deshalb auch nicht vor einer expliziten Inszenierung der Vergewaltigungen oder der Selbsttötung zurückschrecken, hält sich der Vorwurf, die Serie würde Selbstmord romantisieren.

Der „Werther-Effekt“ – Suizid in den Medien als Thema für den Jugendschutz

Im Fokus der weltweiten Kritik von Suizidpräventionsstellen und Jugendschützern stehen die sehr expliziten Darstellungen des Selbstmords und der Vergewaltigungen. Die deutsche Hilfsplattform juuuport beobachtet, dass seit Start der Serie vor einem Monat die Anfragen von Jugendlichen mit Suizidgedanken zugenommen haben. Besonders Jugendlichen, die psychische Probleme oder Suizidgedanken haben, wird von der Serie abgeraten.

Die Annahme, dass die mediale Berichterstattung in Zusammenhang zu einer steigenden Suizidrate steht, ist keinesfalls neu. Für eine Reihe nachgeahmter Selbstmorde soll bereits Goethes Die Leiden des jungen Werther geführt haben.

Auch für den Jugendmedienschutz ist Selbstmord schon lange ein Thema. In den 80er-Jahren löste die ZDF-Serie Tod eines Schülers beispielsweise eine vergleichbare Diskussion wie die Jetzige aus. Denn trotz des guten Willens beider Formate steht und stand eben nicht die Prävention im Fokus, stattdessen wird das Thema Serienfüllend inszeniert.

Jugendschutz & Netflix

Netflix selbst hat die Serie ab 16 Jahren freigeben – heißt, wer auf seinem Konto die Kindersicherung aktiviert hat, muss einen PIN-Code eingeben, um die Serie sehen zu können. Inwiefern eine von Eltern eingerichtete Kindersicherung jedoch für Jugendliche eine Hürde darstellt, dürfen Sie an dieser Stelle selbst entscheiden.

Nur vor drei der insgesamt dreizehn Episoden wird zu Beginn eine Hinweistafel eingeblendet, die kurz und ausschließlich auf Englisch, Zuschauende vor den drastischen Darstellungen von Vergewaltigung und Selbstmord warnt.
Zusätzlich wurde eine 30-minütige Doku, in der Darsteller und Macher der Serie zu den kontroversen Inhalten Stellung beziehen, und eine Webseite, die eine Übersicht nationaler Hilfsorganisationen bietet, veröffentlicht.

Netflix und andere Streamingdienste haben ihren Sitz im Ausland und unterliegen nicht den deutschen Jugendschutzbestimmungen. Altersfreigaben und zeitliche Sendevorgaben  greifen bei Streamingdiensten ohnehin nicht, da rechtlich nur Kino-, DVD- und Fernsehinhalte auf eine Prüfung der FSK oder FSF angewiesen sind.

Jugendschutz im Internet bedeutet vorrangig: Eigeninitiative von Eltern und Erziehenden und Medienkompetenz seitens der jugendlichen Nutzer. Denn Tote Mädchen lügen nicht ist vor allem eins: Ein guter Grund, um ins Gespräch zu kommen.

—————————————————————————————————————

TEENS REACT TO 13 REASONS WHY: Amerikanische Teenager äußern sich zur Serie und brisanten Szene – Teenager nehmen verschiedene Perspektiven, nennen und reflektieren alle wichtigen Punkte.

Über Laura Keller

Laura Keller studierte Kultur- und Bildungswissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg, bevor sie ihren Master in Kinder- und Jugendmedien an der Universität Erfurt begann. Sie gibt medienpädagogische Workshops in Schulen und hofft, Kinder und Jugendliche für den kritischen und kreativen Umgang mit Medien zu begeistern. Während ihres Praktikums gewann sie Einblicke in die Arbeit der FSF.

Schreibe einen Kommentar

Comments are closed.

4 Kommentare zu “Selbstmord in Serie

  1. Hallo, ich wollte eigentlich nur kurz darauf hinweisen, dass die Warnung am Anfang der Serie nicht ausschließlich auf Englisch angezeigt wird, sondern auch auf Deutsch. Ich als Erwachsener Mensch finde die Serie gut und klärt gut auf wie es doch an einigen Schulen zugehen kann..wie sich Menschen fühlen auch wenn es von dem gegenüber vielleicht garnicht so gemeint war..

  2. „Die deutsche Hilfsplattform juuuport beobachtet, dass seit Start der Serie vor einem Monat die Anfragen von Jugendlichen mit Suizidgedanken zugenommen haben.“

    Ist das automatisch ein schlechtes Zeichen? Die Formulierung klingt für mich danach. Wäre es nicht auch möglich, das als gutes Zeichen zu sehen? Dass z. B. seit Start der Serie sich mehr Jugendliche mit Suizidgedanken „trauen“, Hilfe auf einer Hilfsplattform zu suchen? Anstatt (so wie viele) sich niemandem anzuvertrauen?

    1. Dass bei juuuport eine steigende Zahl von Jugendlichen aktiv Hilfe sucht, ist sicherlich für sich genommen noch nicht automatisch ein schlechtes Zeichen oder ein Beweis dafür, dass die Serie Suizidgedanken fördert oder dazu anreizt, diese in die Tat umzusetzen. Problematisch erscheinen aber die dramaturgische Grundstruktur einer Rache bzw. von Vorwürfen und Schuldzuweisungen an die Nachwelt, die depressive Grundstimmung, Hannahs und Clays Perspektive mit dem inhaltlichen Fokus auf der „Schuld“ der Mitschüler und insbesondere die bildlich explizite, gerade in dieser extremen Detailliertheit zur Nachahmung anreizende Darstellung von Hannahs Selbstmord. Es scheint so zu sein, dass solche Darstellungen für Suizidgefährdete ein hohes Risiko der Nachahmung bergen, weil sie das Unvorstellbare vorstellbar machen und so eventuell den Anstoß geben, eine letzte Schwelle zu überschreiten. Das lässt die Serie unter Jugendschutzaspekten als sehr problematisch erscheinen.