Oft gibt es bei Filmfestivals den einen Moment, in dem mich ein Film so richtig packt, hin- und mitreißt, so dass ich mich immer noch an dieses erste Sehen erinnere, das man doch nie wieder erlebt. Vor drei Jahren erlebte ich es bei der Berlinale in Gloria, im letzten Jahr in Victoria. Doch dieses Mal gab es diesen Moment nicht. Stattdessen gibt es einen Film, der sich langsam tief in mich hineingebohrt hat, der mich noch Stunden, Tage später nicht losgelassen hat: 24 Wochen von Anne Zohra Berrached.
Im Mittelpunkt des Films stehen Astrid (Julia Jentsch) und ihr Freund Markus (Bjarne Mädel).
Sie ist Comedian, er ist ihr Manager, sie leben in einem schönen Haus, haben eine gemeinsame Tochter und Astrid ist wieder schwanger. Alles läuft gut, sie sind glücklich. Dann erfahren sie bei einer Untersuchung, dass ihr ungeborener Sohn Trisomie 21 hat. Die Ärztin informiert sie, dass in diesem Fall eine Spätabtreibung bis zur Geburt möglich wäre. In diesem Moment bleibt die Kamera nur bei Astrid und Markus. Ihr Schock angesichts der Nachricht ist zu spüren und zu sehen. Sie sind überfordert mit diesen Entscheidungen: für oder gegen das Leben mit einem behinderten Kind und für oder gegen das Leben eines behinderten Kindes. Aber dann fassen sie sich; Astrid und Markus sind Macher, sie glauben, sie packen das und verkünden auf einer Geburtstagsfeier selbstbewusst ihre Entscheidung. Im privaten Umfeld melden sich zwar leise Zweifel an, aber Astrid und Markus glauben, dass sie das schaffen. So wie sie doch immer alles geschafft haben, selbst damals, als Astrids Vater starb.
Dann wird bei einer weiteren Untersuchung ein schwerer Herzfehler beim Kind festgestellt, so dass es wahrscheinlich sofort nach der Geburt operiert werden muss. Nun gerät bei Astrid die Entscheidung für das Kind ins Schwanken, Markus versteht seine Frau nicht mehr – und weil Astrid in der Öffentlichkeit steht und die Erkrankung des Sohnes bekannt wurde, bilden sich immer mehr Menschen eine Meinung über ihre Situation.
Es ist Astrid, mit der man durch diesen Film geht und durch die man gewissermaßen gezwungen wird, sich dieser Situation zu stellen und die Entscheidung bis zum Ende mitzutragen, obwohl man zu keinem Zeitpunkt selbst eine treffen kann, ja, gar nicht treffen könnte – oder wollte. Dabei ist 24 Wochen nicht überdramatisch oder gar trivial, er will nicht aufklären, bekehren oder einen Standpunkt vertreten, sondern begleitet Astrid. Es gibt Streit mit der Mutter, mit dem Mann, es gibt Gespräche mit Ärzten und Hebammen, einmal fragt Astrid, ob sie das Richtige tue. Niemand könne ihr das sagen, erwidert die Hebamme, außerdem habe auch niemand das Recht, sich über ihre Entscheidung ein Urteil zu bilden. Selten habe ich im Berlinale Palast so viel Taschentüchergeraschel gehört, so oft leises Schnäuzen, verstohlenes Weinen. Es war eine Pressevorführung wohlgemerkt, voller Filmkritiker und -kritikerinnen, denen oft genug Hartherzigkeit und Zynismus vorgeworfen wird.
Dieser Film beschäftigt sich auf sehr erwachsene, ja, reife Art und Weise mit dem Thema Spätabtreibung. Es ist ein Film, der nur in wenigen Ländern überhaupt gedreht werden könnte. Es ist ein Film, der als einer der wenigen Filme über Abtreibungen kein offenes Ende hat, sondern eine Entscheidung trifft. Und die verschiedenen Rezensionen zu dem Film zeigen auch, dass es ein Werk ist, das Diskussionen auslöst. Das ist gut so. Denn es gibt Filme, die einen verändern – und sei es nur ein wenig. Und 24 Wochen ist einer davon.
Anmerkung der Redaktion: am Mittwoch, den 24. Februar 2016, folgt hier im Blog die Zusammenfassung der Berlinale von Sonja Hartl.