Immer? Auch im Internet?
Vor Gericht stehen sich vier große deutsche Tonträgerhersteller als Klägerinnen und die Eltern eines 13-jährigen Sohnes als Beklagte gegenüber. Im Kern des Streits geht es um die Frage, welche Anforderungen an die elterliche Aufsichtspflicht über die Internetnutzung von Kindern zu stellen sind.
Wie das Gericht entschied, erläutert die Kurzvorstellung des Urteils
BGH, Urteil vom 15.11.2012 – I ZR 74/12.
Erläuterung:
Filesharing
Bezeichnet das direkte dezentrale Verteilen von Dateien zwischen unterschiedlichen Nutzern. Oft werden beim Filesharing gleichzeitig Dateifragmente hoch- und heruntergeladen. […] Filesharing geriet in der Vergangenheit in Verruf, da ein hoher Prozentsatz der ausgetauschten Dateien urheberrechtlich geschützt ist (Quelle: http://www.netzwelt.de/internet/filesharing.html).
Tonträgerhersteller
Ein Tonträgerunternehmen (umgangssprachlich Plattenfirma) ist ein Unternehmen der Musikindustrie, das die Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Musik und ihrer Interpreten auf Tonträgern betreibt (Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Tonträgerunternehmen).
Haftung des Aufsichtspflichtigen (§ 832 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB])
(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt.
Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
Elterliche Sorge (§ 1626 BGB)
(1) Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).
(2) Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.
Verwertungsrechte (§ 85 Urheberrechtsgesetz [UrhG])
(1) Der Hersteller eines Tonträgers hat das ausschließliche Recht, den Tonträger zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen […].
Vor Gericht stehen sich vier große deutsche Tonträgerhersteller als Klägerinnen und die Eltern eines 13-jährigen Sohnes als Beklagte gegenüber. Im Kern des Streits geht es um die Frage, welche Anforderungen an die elterliche Aufsichtspflicht über die Internetnutzung von Kindern zu stellen sind.
Die Plattenfirmen beauftragten ein Unternehmen damit, illegales Filesharing aufzuspüren. Es ermittelte im Januar 2007 eine IP-Adresse, über die 1.147 Audiodateien zum kostenlosen Herunterladen angeboten wurden. Im Rahmen des anschließenden Ermittlungsverfahrens konnte diese IP-Adresse den beklagten Eltern zugeordnet werden. Sie hatten den Internetzugang ihren drei Kindern zur Verfügung gestellt.
Ihr jüngster Sohn hatte zu seinem 12. Geburtstag den gebrauchten PC des Vaters geschenkt bekommen. Bei der im August 2007 stattfindenden Wohnungsdurchsuchung wurde dieser Rechner beschlagnahmt.
Auf dem Computer waren die Tauschbörsenprogramme „Morpheus“ und „Bearshare“ installiert. Der 13-Jährige bekundete im Rahmen der polizeilichen Anhörung, er habe nicht gewusst, dass das „so schlimm“ sei. Außerdem war er davon ausgegangen, die Songs „nur heruntergeladen“ zu haben, und zeigte Reue: „Ich werde es nie wieder tun!“
Die Plattenfirmen sind der Auffassung, dass die Eltern wegen der Verletzung ihrer Aufsichtspflicht schadensersatzpflichtig (vgl. § 832 Abs. 1 BGB) sind. Der Schaden, den ihnen der Sohn durch seine widerrechtliche Teilnahme an den Tauschbörsen – die „öffentliche Zugänglichmachung“ von 15 Musikaufnahmen – zugefügt hat, wird beziffert auf 3.000 Euro (200 Euro je Titel) plus Zinsen und Abmahnkosten in Höhe von 2.380,80 Euro. Die Eltern verweigern die Zahlung mit dem Hinweis, sie hätten sehr wohl ihrer Aufsichtspflicht genügt und ihren Sohn entsprechend belehrt. Auf dem Computer seien eine Firewall und ein Sicherheitsprogramm installiert gewesen, Letzteres – gesichert durch ein Administratorpasswort – bezüglich der Installation weiterer Programme eingestellt auf „keine Zulassung“.
In erster Instanz gab das Landgericht Köln der Klage der Tonträgerhersteller statt. Auch die daraufhin seitens der Eltern eingereichte Berufung blieb erfolglos. Beide Gerichte befanden, dass die Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht hinreichend nachgekommen seien. Die Eltern verfolgten ihr Anliegen weiter, die Klage abzuweisen, und zogen vor den Bundesgerichtshof (BGH). Der BGH entschied zugunsten der Eltern: Die Klage wurde abgewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Die Frage, wie umfänglich diese Verpflichtung der Eltern bei der Internetnutzung ihres minderjährigen Kindes ausfällt, um eine Schädigung Dritter durch das Kind zu verhindern, spaltet die bisherige Rechtsprechung in zwei Lager:
(1) Nach der ersten Ansicht genügt es nicht, wenn die Eltern, die ihren Kindern die Möglichkeit der Internetnutzung eröffnen, diese vor Nutzung über die Gefahren möglicher (Urheber-)rechtsverletzungen aufklären, belehren und eine Teilnahme an entsprechenden Tauschbörsen untersagen. Vielmehr müsse eine solche Nutzung mittels technischer Maßnahmen – etwa der Installation von Firewalls oder der Einrichtung von individuellen Benutzerkonten mit beschränkten Befugnissen – unterbunden sein. Darüber hinaus seien die Eltern dazu verpflichtet, das Kind bei jeder Nutzung des Internets laufend zu überwachen und den Computer regelmäßig zu überprüfen, selbst wenn keine Anhaltspunkte (wie z. B. eine bereits erfolgte Abmahnung) für eine widerrechtliche Nutzung seitens des Kindes gegeben sind.
(2) Nach der anderen Ansicht genügen die Eltern ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihre Kinder über die mit der Internetnutzung verbundenen Gefahren belehren, wobei sich Inhalt und Umfang der Instruktion nach Alter und Einsichtsfähigkeit des jeweiligen Kindes richten. Zu weitergehenden Vorkehrungen (z. B. den Internetzugang zu sperren) seien die Eltern erst verpflichtet, wenn entsprechende Anhaltspunkte für eine rechtsverletzende Nutzung durch ihr Kind vorliegen. Der BGH teilt die moderatere zweite Auffassung und stellt fest, das Berufungsgericht habe die Anforderungen, die an das Maß der gebotenen Aufsicht über ein normal entwickeltes Kind zu stellen sind, überspannt. Nicht zu bestreiten sei zwar, dass Kinder und Jugendliche erfahrungsgemäß Verbote überschreiten würden. Ohne irgendwelche Anhaltspunkte könne daraus aber keine stetige Kontrolle folgen. Im Gegenteil widerspräche eine solche Verpflichtung der gesetzlichen Wertung, wonach Eltern aufgefordert sind, bei der Pflege und Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen („Erziehungsgrundsatz“, vgl. § 1626 Abs. 2 Satz 1 BGB).
BGH, Urteil vom 15.11.2012 – I ZR 74/12
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