Sender darf kritischen Beitrag über die Glaubensgemeinschaft „12 Stämme“ ausstrahlen

Mitte Februar teilte die Staatsanwaltschaft Augsburg mit, dass das Ermittlungsverfahren gegen den RTL-Journalisten, der heimliche Filmaufnahmen von Prügelszenen der Sekte „Zwölf Stämme“ gemacht hatte, eingestellt wurde. Der Journalist hat keine strafrechtlichen Konsequenzen zu erwarten. Der Fall, der vor dem Bundesverfassungsgericht landete – heute in unserem Rechtsreport. Es geht es um das Recht am eigenen Bild – Allgemeines Persönlichkeitsrecht.
Für die Recherche zu seiner Reportage hatte sich der Journalist zwölf Tage lang als „Gast“ in die Glaubensgemeinschaft „12 Stämme“ eingeschleust. Heimlich filmte er, wie die Mitglieder ihre Kinder wegen offenkundiger Belanglosigkeiten mit der Rute züchtigten. Die Gesichter der gezeigten Personen wurden in dem Beitrag unkenntlich gemacht. Nachdem 115 Mitglieder der Glaubensgemeinschaft durch die Aufnahmen ihr allgemeines Recht auf Persönlichkeit verletzt sahen, versuchten sie, die Ausstrahlung per einstweiliger Anordnung – „im Eilverfahren“ – gerichtlich untersagen zu lassen.
Rechtsreport FSF, Die zwölf Stämme (c) FSF

Erläuterungen: Glaubensgemeinschaft „12 Stämme“

Die „12 Stämme“ bezeichnen sich selbst als bibeltreue Urchristen. In strenger hierarchischer Ordnung leben sie überwiegend von Landwirtschaft. Berüchtigt sind ihre gewaltbereiten Erziehungsmethoden, die für Zeitungsschlagzeilen wie „Religion mit der Rute“ sorgen. Die ultrakonservative Sekte entstand Anfang der 1970er-Jahre in den USA. Ihr bayerischer Zweig erlebte im September 2013 spektakuläre Polizeiaktionen: Jugendämter ließen 40 Minderjährige abholen und in Pflegefamilien unterbringen, nachdem den Eltern das Sorgerecht entzogen worden war.

Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht am eigenen Bild
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt Individuen vor Eingriffen in ihren Lebens- und Freiheitsbereich. Es ist im Grundgesetz verankert und hat damit Verfassungsrang (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1). Das Recht am eigenen Bild als besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts regelt das Kunsturhebergesetz in § 22 Satz 1: Danach dürfen Abbildungen einer Person grundsätzlich nur dann verbreitet oder zur Schau gestellt werden, wenn deren Einwilligung vorliegt.

Körperliche Züchtigung
In den letzten 100 Jahren hat sich der § 1631 BGB zu „Inhalt und Grenzen der Personensorge“, der sich mit Erziehungsmethoden befasst, stark gewandelt. Hier ein historischer Überblick der gesetzlichen Entwicklung:
Bis 1958: „(1) Die Sorge für die Person des Kindes umfasst das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
(2) Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. Auf seinen Antrag hat das Vormundschaftsgericht ihn durch Anwendung geeigneter Zuchtmittel zu unterstützen.“
1980, Einführung des Absatzes: „(2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“
1998, Ergänzung dieses Absatzes: „(2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“
Seit 2000, erneute Änderung des Absatzes: „(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Im Kern der Auseinandersetzung geht es um die Forderung von 115 Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft „12 Stämme“, die Ausstrahlung eines in ihren Augen persönlichkeitsrechtsverletzenden Fernsehbeitrags über ihre Lebensumstände zu verhindern. Für die Recherche zu seiner Reportage hatte sich ein Journalist zwölf Tage lang als „Gast“ in die Glaubensgemeinschaft eingeschleust. Heimlich filmte er, wie die Mitglieder ihre Kinder wegen offenkundiger Belanglosigkeiten (Spielen oder Reden beim Essen) mit der Rute züchtigten. Die Gesichter der gezeigten Personen wurden in dem Beitrag unkenntlich gemacht. Vor der geplanten Ausstrahlung durch den Sender RTL übermittelte der Journalist seine Aufnahmen den zuständigen Behörden, die daraufhin insgesamt 40 Kinder der Gemeinschaft wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung in ihre Obhut nahmen. Zuvor hatte das Amtsgericht einen entsprechenden vorläufigen Sorgerechtsentzug angeordnet. 115 Mitglieder der Glaubensgemeinschaft sahen durch die Aufnahmen ihr allgemeines Recht auf Persönlichkeit verletzt: Die „angeblich schlagenden Eltern“ und die „angeblich geschlagenen Kinder“ würden durch die „zirkusartige Darbietung“ in den Aufzeichnungen „irreversibel bloßgestellt“. Sie versuchten daher, die Ausstrahlung per einstweiliger Anordnung – „im Eilverfahren“ – gerichtlich untersagen zu lassen.

Zunächst wies das Landgericht Köln den Antrag zurück. Es entschied, die Mitglieder hätten ihren Unterlassungsanspruch nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Ein solcher Anspruch könne nur demjenigen zustehen, der von der Ausstrahlung des Ton- und Bildmaterials konkret und individuell betroffen sei. Im vorliegenden Fall sei jedoch weder ersichtlich noch wahrscheinlich, dass Aufzeichnungen von sämtlichen 115 Mitgliedern ausgestrahlt werden würden. Auch die nächsthöhere Instanz, das Oberlandesgericht Köln (OLG), entschied zugunsten des Journalisten und des Senders. Ergänzend zur Vorinstanz fügte das OLG hinzu, dass eine Verletzung des Rechts am eigenen Bild die Erkennbarkeit der abgebildeten Person voraussetze, was jedoch bei der hier unstreitigen optischen Verfremdung nicht zutreffe. Unabhängig davon hänge der Unterlassungsanspruch von einer Abwägung der rechtlich geschützten Interessen der Betroffenen ab: Auf der einen Seite stehe die Meinungs-/ Pressefreiheit des Senders/des Journalisten (Art. 5 Abs. 1 GG), auf der anderen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitglieder (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).

Das OLG wies darauf hin, dass selbst die Verbreitung heimlich aufgezeichneter, widerrechtlich erlangter Informationen – wie hier geschehen – vom Schutz des Grundgesetz-Artikels 5 umfasst sei; andernfalls könne die Kontrollfunktion der Presse leiden, der es auch obliege, auf Missstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen. Diesem Grundrecht komme umso größeres Gewicht zu, je bedeutsamer die Information für die Öffentlichkeit sei – etwa wenn sie Zustände offenbare, an deren Aufdeckung ein öffentliches Interesse bestehe. Ob dies hier der Fall sei, könne zwar im Rahmen des Eilverfahrens ohne weitere konkrete Angaben nicht abschließend beurteilt werden. Jedoch spreche es gegen die Eltern, dass sie die gegen sie erhobenen Vorwürfe angesichts der vorläufigen Sorgerechtsentziehung nicht ausreichend entkräftet hätten. Auch sei der Vorwurf wenig glaubhaft, die verdeckt gedrehten Aufnahmen seien manipuliert worden.

Die Sektenmitglieder erhoben schließlich Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das BVerfG bestätigte im Wesentlichen die Ausführungen der Vorinstanzen; so habe das OLG Köln die verfassungsrechtlichen Grundsätze, insbesondere zu heimlichen Aufzeichnungen und zum Bildnisschutz, beachtet. Es sei nicht ersichtlich, weshalb dem Persönlichkeitsrecht der Mitglieder trotz unstreitiger Verfremdung ein Vorrang gegenüber der Meinungs-/ Pressefreiheit der Antragsgegner einzuräumen sei.

BVerfG, 1 BvR 2519/13 vom 09.09.2013

 

Anmerkung: Das BVerfG kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung („Eilverfahren“) regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Wie es weiter ging!?
Für den RTL-Reporter hatten die Filmaufnahmen keine strafrechtlichen Konsequenzen. Hierzu in der Presse:
Süddeutsche.de am 13. Februar 2014, Ermittlungen gegen TV-Reporter eingestellt
DIE WELT vom 14. Februar 2014, RTL durfte undercover bei „Zwölf Stämmen“ filmen

Dieser Beitrag sowie weitere Aufsätze, Urteile und Zusammenfassungen aus der Kategorie Recht finden sich in der aktuellen tv diskurs 67, 1/2014.

Über Anke Soergel

Studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln. Im Rahmen ihres Referendariats arbeitete sie u.a. bei der Verwertungsgesellschaft VG Bild-Kunst sowie bei der Produktionsfirma Zieglerfilm Köln GmbH. Als Volljuristin nahm sie 2008 ihre Tätigkeit als Referentin für Jugendschutzrecht bei der FSF auf. Sie betreut u.a. den Rechtsreport in der tv diskurs.