Jüngst kam mein Cousin anlässlich seines 50. Geburtstags auf die Idee, die verstreute Sippe wieder einmal zu einem klassischen Familienfest zusammenzurufen. Als das dann stattfand, drehten sich die Gespräche anfangs natürlich um die irgendwann einmal gemeinsam verbrachten Ferien bei der Oma und um das Gedeihen der Kinder und Enkel. Über die danach latent aufkommende Sprachlosigkeit half eher bedingt der eine oder andere Obstbrand in Opas Tradition hinweg. Und dann begann das Kulturprogramm. Zunächst bemächtigte sich ein fremder Mann der Musikanlage und ersetzte die Songs von Peter Maffay und Nana Mouskouri durch dezente Barmusik. Leise kam eine junge Frau hinzu und begann, zumindest zu meiner Überraschung, sich bei dezenter werdendem Licht vor der Kaffeetafel auszuziehen. Kaum war schließlich das Höschen gefallen, war das Pärchen auch schon wieder verschwunden. Meine Verwandten – Steuerberater, Krankenschwester, Techniker verschiedenster Provenienz, Lehrer, Verkäufer, ein Arbeitsloser und ein Mitarbeiter einer Arbeitsagentur – übertrafen sich nun mit leuchtenden Augen bei der Beschreibung dessen, was sie gesehen hatten oder gesehen haben wollten. Und sie verglichen den Auftritt mit ähnlichen Vorführungen, die sie erlebt respektive von denen sie gehört hatten. Groß war der Dank an die Cousinen für diese wunderbare Geschenkidee. Den Erzählungen nach zu urteilen, war die allerdings gar nicht so besonders ausgefallen. Eine Stripteaseshow scheint inzwischen bei 50. Geburtstagen so normal wie der Zauberkünstler zum Kindergeburtstag.
Doch warum sollte auch dem deutschen Mittelstand im Rahmen seiner Möglichkeiten nicht billig sein, was dem ehemaligem italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi recht ist? Warum sollte man sich bei besonderen Anlässen das allgegenwärtige Covergirl nicht mal nach Hause bitten, wenn Versicherungskonzerne ihre eifrigsten Mitarbeiter mit Sexpartys im Budapester Gellért Bad belohnen? Zeigt sich hier nicht deutlich, wie tolerant und unverklemmt unsere Gesellschaft inzwischen geworden ist?
Diese Sicht träfe sicher bei den Beteiligten auf ungeteilte Zustimmung. Wenn man das Ganze allerdings im Zusammenhang mit dem sieht, was meine Verwandten dann beim Absacker spät in der Nacht erzählten, scheint es aber noch eine ganz andere Seite der Medaille zu geben. Da war quer durch die Branchen die Rede von anstrengenden Chefs, unübersichtlichen und sich ständig verändernden Arbeitsstrukturen, von Problemen mit der Schule der Kinder, von bürokratischen Verwaltungen, komplizierten Tagesabläufen, gesundheitlichen Belastungen, von Stress und generellen Zeitproblemen. Was in den Erzählungen nicht vorkam, das waren Emotionen, Gefühle, Leidenschaft – mithin alle Formen selbstbestimmten Handelns, das aus dem Inneren kommt, das mit Herz und Seele zu tun hat. Alle Energie wird offenbar allein auf das Erhalten der immer eindringlicher eingeforderten Geschäftsfähigkeit ausgerichtet. Die Folge ist: Für wirkliches Leben bleibt kaum noch Platz, es wird bis in die intimsten Bereiche hinein durch Erleben ersetzt. Warum hat niemand, statt der distanzierten Körperpräsentation der fremden Frau zuzusehen, mit der attraktiven Kellnerin geflirtet – Alice Schwarzer möge mir den Gedanken nachsehen – oder warum ist keiner alternativ mit seinem Partner einfach mal durch den Ort, der einst Kindheit mitbestimmte, spazieren gegangen?
So haben alle passiv Lebenszeit vergeudet und eigentlich hätten sie das konsequenterweise zu den später genannten Belastungen hinzufügen müssen. Doch was würde dann bleiben? Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, dass eine alle Lebensbereiche erfassende Erlebnisindustrie sich um unsere Emotionen kümmert. Das hat aber selten etwas mit der Innerlichkeit von authentischen Gefühlen zu tun, es richtet sich allein auf die Oberfläche und dabei im Speziellen auf unsere Körper.
Idealisierte Vorbilder werden geschaffen und für die zelebrierte Künstlichkeit fürstlich bezahlt. Gisele Bündchen oder Daria Werbowy als Models oder Jennifer Lopez und Lady Gaga im Showgeschäft geben in einem vordergründig sexualisierten Kontext den Maßstab vor. In allen möglichen medialen Formaten werden diese Leitfiguren auf jeglicher Niveaustufe imitiert. Der Hessische Rundfunk ließ erst seine Tatort-Kommissarin Nina Kunzendorf mit Strassgürtel, Cowboystiefeln und tiefem Dekolleté im pinkfarbenen engen T-Shirt als Verschnitt der Comicfigur Lara Croft vor das geneigte Publikum treten. Aus Kunstfiguren werden Leitbilder und alle Welt sucht ihnen nachzueifern. Da werden Fitnessgeräte frequentiert, Ernährungskurse besucht und Yogakurse absolviert, es wird frisiert, manikürt und als jüngster Ausweis wahrer Jugendlichkeit epiliert, was die Haut aushält.
Suggeriert wird ein Bild der höchsten individuellen Freiheit und das Ergebnis ist eine uniforme Gleichförmigkeit. Als die Länderabstimmungen beim Grand Prix 2011 verkündet wurden, war das normierte Aussehen der Moderatorinnen von Skandinavien bis Georgien geradezu erschreckend. „Heute hat nichts mehr Ecken und Kanten“, meint die Produzentin des Castingformats DSDS, Ute Biernat. Ihre Show will hier ein paar Widerhaken setzen. Vielleicht ist sie gerade aus diesem Grund innerhalb des Erlebnisgeschäfts so erfolgreich. Die allgegenwärtige Orientierung an Äußerlichkeiten durchbricht sie deshalb aber noch lange nicht. Es wird auch überall so getan, als würde die Sexualität als ein zentrales Lebensgefühl höchste Aufmerksamkeit erfahren. Erotische Beschreibungen, insbesondere solche von jungen Frauen, können gar nicht ausführlich und detailreich genug sein, um auf dem Büchermarkt höchste Auflagen zu erreichen. Geschätzt wird dies als zeitgemäße Erlebnisliteratur im Sinne einer Stellvertreterfunktion, es hat aber nichts mit dem Leben zu tun.
Ein Erotikklassiker wie die Geschichte der O von Dominique Aury aus dem Jahre 1954, der Leidenschaft und Obsession in der innersten Gefühlswelt nachspürt und somit Leben in extremer Auslotung bedeutet, steht hingegen nach wie vor im Fokus der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Wenn jetzt, wie „Der Spiegel“ schrieb, konservative Moralapostel in den USA und anderswo zur „letzten Schlacht am Venushügel blasen“, dann steht zu befürchten, dass neben den Abziehbildern von „Playboy“ bis Ke$ha auch die erotische Leidenschaft als solche an den Pranger gestellt wird. Was uns da verloren gehen würde, das problematisierte Patrice Chéreau bereits vor zehn Jahren in seinem Berlinale-Gewinner Intimacy. Hier konnten archaische Leidenschaft und modernes Alltagsleben schon nicht mehr zusammenfinden.
Dieser Beitrag erschien bereits in der Ausgabe 57 der tv diskurs und steht auf tvdiskurs.de als Download zur Verfügung.