Die jugendliche Emanzipation gegenüber familiären Strukturen hatte sich bei mir symbolisch unter anderem in der Abkehr von jeglichen weihnachtlichen Ritualen manifestiert. Die Versammlung unterm Tannenbaum, das Singen und Geschenkeüberreichen und am nächsten Tag der üppige Gänsebraten, all das kam mir seinerzeit höchst suspekt vor.
Das änderte sich schlagartig, als ein Kommilitone für ein Dezemberwochenende seine Freunde zu einem verlockenden Abend in die Kneipe seines Opas irgendwo im Erzgebirge eingeladen hat. Von Freiberg aus ging es mit dem Bus nach Lauter in der Nähe von Aue. Dort hieß es dann, wir müssten noch ein Stück durch die Landschaft wandern, denn die Lokalität sei eine Hütte auf einem nahegelegenen Berg. Es begann ein Anstieg auf 813 Meter Höhe. Alles in Schuhen, die einem Tanzparkett Ehre gemacht hätten. Dann fing es an zu schneien, dicke, feuchte Flocken. Bald stapften wir durch knöcheltiefen Schnee. Die Stimmung sank auf den Tiefpunkt und immer wieder wurde sehnsüchtig an das Stammlokal am Freiberger Marktplatz gedacht. Irgendwann kamen wir auf dem Gipfel der „Morgenleithe“ an. Vor uns ein eher windschiefer Aussichtsturm und daneben ein Häuschen, welches das Ziel unserer Mühen sein sollte. Durchgefroren und nicht nur an den Füßen nass, drängten wir durch die Tür.
Dahinter tat sich ein wahres Wunder auf. Der Opa stand vor einem wohlige Wärme ausstrahlenden Kamin, neben ihm drehte sich eine vierstöckige Pyramide, an der Decke hing ein Kerzenleuchter mit den Figuren der erzgebirgischen Bergparade, es duftete nach Rostbrätel und das Wasser für den ersten Grog kochte bereits. Es gab warme Filzpantoffeln und alle Mühen, alles Fluchen waren augenblicklich vergessen. Der alte Mann bewirtete uns mit ausgesprochen unaufgeregter Herzlichkeit. Nach jeder Runde frisch Gezapften kam er mit einem Tablett voller Likörgläschen. „Jeder Tropfen Lautergold köstlich durch die Kehle rollt“, so lautete seine Einladung und wer wollte da ablehnen. Irgendwann griff er zum Akkordeon und sang Lieder vom „Raachermannel“ oder vom schönen „Arzgebirg“. Bald brummten wir, angeregt vom Bergmannsgold, mehr oder weniger selbstvergessen mit. Alle Gedanken an die Alltagswelt waren vergessen. Schließlich stiegen wir auf den Turm. Der Schnee rieselte nur noch ganz sacht und in den Ortschaften unter uns glitzerte es vom Schein unzähliger Lichter. Es war der Abend zum zweiten Advent. Einst war das Gebirge eine Bergbauregion und hier galt das Licht in besonderer Weise als Symbol des Lebens. In der dunklen Jahreszeit stellte man zur Orientierung Kerzen in die Fenster, als Halter für jeden Jungen des Hauses einen geschnitzten Bergmann und für jedes Mädchen einen Engel. Jetzt, zur Weihnachtszeit, kamen noch kunstvoll gestaltete Schwibbögen hinzu.
Zurück in der Gaststube fand dann zu später Stunde jeder dort einen Schlafplatz, wo er zuvor gesessen hatte. Als wir aufwachten, war es schon längst hell. Der Kamin war wieder eingeheizt und der Gastgeber hatte ein magenberuhigendes Frühstück serviert. Später stiegen wir nach Schwarzenberg hinab. Die mittelalterlichen Gassen des Ortes präsentierten sich als ein einziger Weihnachtsmarkt. Inmitten der Düfte, Klänge und Gesänge erstand ich eine kleine Pyramide mit einem geschnitzten Krippenspiel.
Meine Familie staunte nicht schlecht, als ich zum Weihnachtsfest dieses Geschenk auspackte. Seither ist bei uns keine Adventszeit denkbar, in der das Kleinod nicht seinen besonderen Platz einnimmt.