Scripted

Ich fühle mich heute so gescripted. Irgendjemand haut mich in die Tasten. Wer bin ich? Soll ich mich spielen oder soll ich bloß sein? Kennen Sie das Gefühl, Sie hingen an Fäden, die ein anderer zieht? Manchmal fühle ich mich auch verlinkt, kopiert bis raubkopiert oder gegoogelt, aber heute fühle ich mich, ganz ehrlich, gescripted. Meine Frau sagt, so kannst Du nicht vor die Kinder treten. Sie verhängt Schnittauflagen, von deren prompter Ausführung sie es abhängig macht, ob ich die Kinder heute noch sehen und sprechen darf. Frau und Kinder? Ich dachte, ich wäre Single? Wer hat sich denn den Typen, der ich bin, ausgedacht? Lebe ich ein gecastetes Leben? Bin ich die Fliege, die auf den Bildschirm scheißt, während der Senderchef die Einschaltquoten von gestern feiert? Was Sie hier lesen, unter diesem Namen, das bin nicht ich! Irgendjemand treibt hier sein Spiel mit Versatzstücken meiner Existenz. „Bleiben sie ganz natürlich“, hat die Frau gesagt, dann wurde ich vor die Kamera gestoßen. Jetzt soll ich einen Hirnforscher spielen, der die Kinder und Eltern vor digitaler Demenz warnt. „Bitte etwas mehr Schaum vor dem Mund“, ruft die Frau aus dem Hintergrund. Wo bin ich? In einer Show? Einer Serie? Nächste Szene: Ich breche nächtens in eine Schule ein und stehle alle Unterrichts-Laptops. Dann klicken die Handschellen. Ich rufe, schreie, wie es das Drehbuch befiehlt: „Ich hab es doch nur für die Zukunft unserer Kinder getan!“ Übrigens steckt keine Floskel so oft in meinem Mund wie in meinem Herzen wie diese: „Ganz ehrlich!“ Das ist Frage und Antwort, Ziel und Weg zugleich, das ist das Credo der Scripted Reality. Authentizität! Ganz ehrlich! Jetzt klinge ich aber arg pädagogisch. Ich will Spaß. Ich will Fun. Ich will das geilste Tattoo, das die Welt gesehen hat. Ich lebe Tag und Nacht in Berlin. Ich führe „X-Diaries“ und zum Urlaub sieht man mich am Goldstrand in Bulgarien. Ich überlege, wie ich mich noch kostengünstiger an den Zuschauer bringe. Ich will mein Leben zurück. Wie heiße ich noch mal?

Über Torsten Körner

Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin. Während des Studiums erste journalistische Arbeiten. Nach Abschluss des Studiums Promotion über ein film- und kulturwissenschaftliches Thema. Seither freier Autor für verschiedene Medien. Diverse Veröffentlichungen, verschiedene Jury-Tätigkeiten. Als Fernsehkritiker meistens in Funk-Korrespondenz, epd medien und Der Tagesspiegel unterwegs. Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen.