Mückenstiche und Filmkunst – Über das Filmfestival von Locarno

Dass ich es jemals für eine gute Idee halten würde, Anfang August in die italienische Schweiz zu fahren, hätte ich eigentlich kaum für möglich gehalten. Ich habe es nämlich nicht so mit Sonne und Hitze. Aber dann kam die Gelegenheit, zum Festival del film Locarno zu fahren, auch noch in dem Jahr, in dem dort eine Retrospektive zum deutschen Film in der Nachkriegszeit läuft. Wer hätte da widerstehen können …

Locarno ist eines der A-Festivals in Europa, es gehört mit Venedig und San Sebastián nach Cannes und Berlin zu den Filmfestivals, über deren Bedeutung und Relevanz je nach Jahrgang und persönlicher Präferenzen gerne geredet und gestritten wird. Dabei hat sich Locarno den Ruf erarbeitet, sehr populäres Kino mit sehr künstlerischem Kino zu verbinden. Die Bandbreite zeigt sich gewissermaßen schon an meinen ersten beiden Filmen: Jason Bourne und Wet Woman in the Wind (OT: Kaze ni nureta onna) – hier traf großzügig budgetiertes Hollywood-Actionkino auf einen finanziell knapp ausgestatteten japanischen Kunst-Porno. Dabei hat sich abermals gezeigt, dass aus viel Geld nicht unbedingt ein guter Film entstehen muss, sondern gerade ein knappes Budget manchmal die größere Kreativität hervorbringt.

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Mein Lieblingsfilm in diesem Jahr ist hingegen Scarred Hearts  (OT: Inimi cicatrizate) von Radu Jude, der auch mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Nachdem schon Sieranevada von Cristi Piui in Cannes sehr gut aufgenommen wurde, zeigt auch dieser Film eines rumänischen Regisseurs, dass Rumänien derzeit das interessanteste Filmland Osteuropas ist. Lose basierend auf den Schriften und dem Roman Zernarbte Herzen von M. Becher erzählt Radu Jude in seinem Film von dem 20-jährigen Emanuel, der an Knochentuberkulose erkrankt und in ein Sanatorium ans Meer gebracht wird. Dort findet sich eine illustre Gesellschaft Moribunder ein, die sich aber – anders als in Thomas Manns Zauberberg – nicht nur in philosophischen Höhen verlieren, sondern auch sehr konkret um ihren Weg zurück ins Leben kämpfen.

Dabei ist Scarred Hearts – wie die Knochentuberkulose im Vergleich zur Lungentuberkulose – ein sehr körperlicher Film, der mit Bildern im 4:3-Format mit abgerundeten Ecken die körperlichen Leiden einfasst. Zudem durchziehen Antisemitismus und soziale Probleme im Rumänien der 1930er-Jahre diesen Film, ohne dass sie besonders dramatisch akzentuiert werden.

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Ein weiterer bemerkenswerter Film aus Locarno stammt aus dem Jahr 1961 und wurde im Rahmen der sehenswerten Retrospektive gezeigt: In Kirmes erzählt Wolfgang Staudte sehr direkt von dem Schweigen der Nachkriegszeit. In einem Dorf in der Eifel werden die Überreste eines Wehrmachtssoldaten gefunden. Die resolute Martha Mertens behauptet sofort, es handelt sich um ihren Sohn Robert – und fordert ihren Ehemann sowie den Bürgermeister und Pastor auf, endlich die Wahrheit über dessen Tod zu sagen. Damit beginnt eine Rückblende, die genau zeigt, wie schwierig es war, sich im Nationalsozialismus einen Rest Menschlichkeit zu bewahren, wie gut das System der Angst, Denunziation und Indoktrination funktioniert hat und wie bruchlos die Karrieren der NS-Schergen in der BRD fortgesetzt wurden.

In der zeitgenössischen Rezeption wurde Staudte aufgrund dieses Films als „Nestbeschmutzer“ gesehen, heutzutage sollte man sich Kirmes unbedingt ansehen – allein schon, um zu erinnern, wohin Angst und Hass führen.

Olaf Möller: Einführung zu den Filmen der Retrospektive; Courtesy: Festival del film Locarno 2016 © Sonja Hartl
Olaf Möller: Einführung der Filme der Retrospektive Locarno 2016 © Sonja Hartl

Das Schwitzen in der Hitze am Lago Maggiore und unzählige Mückenstiche haben sich allein schon für diese Filme gelohnt – und die gute Nachricht ist: Die Retrospektive zum Film der Nachkriegszeit geht auch auf Tournee. Bisher bestätigte Spielstätten in Deutschland sind im Oktober/November 2016 im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main, später im Zeughauskino in Berlin, im Filmmuseum Düsseldorf, im Metropolis Kino Hamburg und in der Caligari FilmBühne in Wiesbaden.

Über Sonja Hartl

Sonja Hartl studierte Deutsche Sprache und Literatur, Medienwissenschaft und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg und schreibt seither als freie Journalistin über Film, Fernsehen und Literatur. Außerdem betreibt sie das Blog Zeilenkino und ist Chefredakteurin von Polar Noir.