Vielleicht

Ich heiße Torsten Körner, bin 187 groß, weiß, Mitteleuropäer mit den handelsüblichen Allergien, Neurosen und dermatologischen Auffälligkeiten. Muskulär bin ich so la la. Bauch nein, Nabel ja, muss ja irgendwo herkommen, schmale Schultern (Hemdgröße 38). Aber welche audiovisuellen Signaturen toben sich aus im Geist-Körper-Dialog, in der Mensch-Medien-Maschine?

Ich bin aufgewachsen ohne Jugendschutz. Zumindest hab ich keinen gesehen. Der erste Jugendschützer begegnete mir, als ich schon in den Brunnen gefallen war. Holden Caulfield, der Held aus Salingers „Der Fänger im Roggen“. Wenn ich mich richtig erinnere, träumte Holden davon, ein Mann im Roggenfeld zu sein, einer, der dort steht und die Kinder davor schützt, eine Klippe hinunterzustürzen. Ich mag das Bild, obgleich ich nicht sicher bin, es richtig verstanden zu haben.

Meine Eltern haben mich, Gott sei Dank, mit einer Rückspultaste fabriziert, das erleichtert die Arbeit. Sie sitzt, so groß wie ein Kronkorken, auf dem linken Handballen und kann unauffällig gedrückt werden. Ich nehme dazu immer den rechten Daumen. Da sind wir auch schon, im Kreissaal, dank High-Speed-Replay. Schwarzweiß, ich war ein schwarzweißes Baby. Grobkörnig. Hatte in meiner Kindheit keinen Parkplatz vor dem Fernseher, hab kein Erinnerungsbild von einem Apparat. Nur ganz unten, unter meinem kleinen Zeh sitzt ein Bildchen von einem Bildschirm, der sich nach außen wölbt und in ein Wohnzimmer glotzt. Bin ich jetzt in mir drin? Was ist in mir drin?

Ich bin polymorph-medial aufgewachsen. Radiostimmen, das Flüstern von Vaters Zeitung, Werner Höfers Frühschoppen. Eingeschult noch vor dem dualen System, meine Zunge synchronisiert. Der Einfluss einer katholischen Leihbücherei muss vermerkt werden. Geschichten sind da, auch Bibelgeschichten. Früh wird klar, eine Geschichte, in der kein Abenteuer bestanden wird, ist keine Geschichte. Angst ist ein Erlebenshelfer. Vielleicht sagte meine Mutter „Mach jetzt mal die Augen zu!“, als ein Toter seine Augen aufriss. Vielleicht! „Klettere nicht so hoch!“ Dieser Satz ist sicher. Das Komische an meiner Mediensozialisation ist, dass die Bilder kaum einer Chronologie gehorchen. Vielleicht weiß ich, dass „Dallas“ und „Denver“ nicht im selben Jahr wie „Holocaust“ liefen, aber fühlen tue ich es nicht. Woher kommt jetzt Anne Frank? Wahrscheinlich aus ihrem Tagebuch, aber vielleicht auch aus dem Fernseher. Da, unter dem Herzen, stecken diverse Folgen „Raumschiff Enterprise“, „Time Tunnel“. Hallo, Sandmännchen! Hallo, Ernie und Bert!
Hallo Rudi Carell und Thomas Gottschalk. Hallo Dick und Doof! Hallo Auschwitz und Adolf Hitler! Hallo, alter Angstmacher Hitchcock, hallo, Winnetou und Old Shatterhand!  Hallo Edgar Wallace, deinen Kinski-Wahnsinn und dein Maschinengewehr, das meine Zuversicht perforierte, werde ich vergessen. Kaum noch auseinanderzuhalten sind Imagination, Fiktion, Serie, Identität, Fernsehen, das alte Leichen- und Leidensschauhaus. Wenn der Lebensfilm noch mal abgespult wird, im Augenblick des Todes, wären es dann ausschließlich authentische Bilder oder inszenierte? Eine Mischung aus beiden Arealen? Oder würde in diesem Moment tödlichster Wahrhaftigkeit (sofern er das ist)  überhaupt noch ein Unterschied gemacht?  Erste, zweite, dritte und vierte Realität, wer will das noch auseinanderhalten?

Ab heute bin ich Blogger. Ich verbinde die höchsten Erwartungen mit diesem Amt. Mein Leben wird sich ändern. Ich werde eine Meinung haben. Ich werde meine Ängste auseinanderfalten, aufs Bügelbrett legen, lesen und anziehen. Mal sehen, welche Angst mir steht. Geschichten sind die Religion aller Leute ohne Gott. Leute mit Gott warten darauf, dass der große Erzähler ihr Leben in ein Märchen tunkt. Ich habe Götter. „Dexter“ etwa oder „South Park“, „Die Sendung mit der Maus“, „Lost“ oder „Die Märchenbraut“. Glauben tue ich nicht an sie. Was erzähle ich meinen Kindern? Ich werde jetzt eine Meinung haben, das nehme ich mir ganz fest vor. Morgen. Ich werde im Roggenfeld stehen, vielleicht. Ich werde bloggen. Sagt man so? Ich bin ein Maybe! Definetely!

Über Torsten Körner

Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin. Während des Studiums erste journalistische Arbeiten. Nach Abschluss des Studiums Promotion über ein film- und kulturwissenschaftliches Thema. Seither freier Autor für verschiedene Medien. Diverse Veröffentlichungen, verschiedene Jury-Tätigkeiten. Als Fernsehkritiker meistens in Funk-Korrespondenz, epd medien und Der Tagesspiegel unterwegs. Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen.