Was bleibt

Berlinale 2017 | Teil 1

Vor fünf Jahren lief Hans-Christian Schmids Film mit dem Titel Was bleibt im Wettbewerb der Berlinale. Es war ein Film über das Beziehungssystem der (bürgerlichen) Familie und sezierte sehr genau, was Verdrängungsmechanismen, Abhängigkeiten, Lügen und die Liebe im Zusammenspiel bewirken können.
Ich fühlte mich bei dieser Berlinale daran erinnert, denn ganz viele Filme kreisten um die Unmöglichkeit von Beziehungen, die Versuche zueinander zu kommen und die mangelnde Fähigkeit, sich zu zeigen. Auf die Spitze trieb es der Gewinnerfilm On Body and Soul von der ungarischen Regisseurin Ildiko Enyedi. In beeindruckend poetischer Weise erzählt sie von zwei einsamen Seelen, die sich schon längst imaginär begegnet sind und nur durch Zufall davon erfahren, dass sie seit einiger Zeit den gleichen Traum haben. Eine Liebe im Schlachthaus (dort spielt der Film tatsächlich) kann dann auch im übertragenen Sinne so verstanden werden: Die Liebe in Zeiten des empfundenen gesellschaftlichen Terrors und Wahnsinns. Vielleicht mochte die Jury (und auch viele der Kritiker) diesen Film deshalb besonders, da er gerade explizite gesellschaftspolitische Hinweise vermied und sich in der symbolischen Erzählung ganz um das Kino kümmerte und mit großartigen Bildern aufwartete, für die es sich lohnt, die eigenen Abspielgeräte wegzulegen. Zudem beließ es der Film nicht bei der üblichen depressiven Tragik, sondern vermengte die Ernsthaftigkeit seiner Erzählung mit feinem Humor. Empfand ich ihn mitunter zu absichtsvoll, so war ich doch beeindruckt, nicht zuletzt davon, was dieser Film bei vielen Zuschauerinnen und Zuschauern hinterließ. Da war auch ein Stück Hoffnung, so kitschig das klingen mag, dass das Kino mehr ist als entweder kommerzielle Unterhaltung oder artifizielle Selbstbespiegelung.

Filmteam "Oskars Amerika" bei Berlinale (Sektion Generation Kplus) am 15. Februar 2017| Foto © FSF
Filmteam „Oskars Amerika“ bei Berlinale (Sektion Generation Kplus) am 15. Februar 2017| Foto © FSF

Natürlich zeichnet sich die Berlinale nach wie vor durch einen starken politischen Akzent aus. Mir ist zwar völlig unklar, warum das immer wieder so betont werden muss, da es mir selbstverständlich erscheint, dass Filme gesellschaftspolitische Prozesse reflektieren. Die alte Weisheit gilt, dass eigentlich nichts unpolitisch ist. Aber das Festival braucht eben dieses Etikett, um sich in der Welt der Festivals zu unterscheiden. Doch genau jene explizite Markierung sah man in ihren stärksten Momenten in Filmen der Sektionsreihen Forum und Panorama. Mit Insyrieted – vom belgischen Regisseur Philippe van Leeuw – konnte ich in atemberaubender Spannung in eine Wohnung einer Familie blicken, die in Damaskus blieb und das Land nicht verlassen hat bzw. will, obwohl sie jeden nur erdenklichen Grund dafür hätte. Ihre Wohnung in einem Mietshaus befindet sich mitten in der Kampfzone zwischen den bewaffneten Regierungstruppen und der Opposition. Aber auch hier geht es um Beziehungen, um Fragen der Moral in Zeiten des Krieges, die in einer solchen Situation auf die Spitze getrieben werden. Es ist schier nicht aushaltbar, wenn sich ein Mitglied der Familie opfern muss, damit die anderen überleben, aber genau das thematisiert dieser Film und offenbart damit mehr als die Frage nach Gut und Böse.

Zum Nachdenken – Berlinale für Kinder

Apropos Gut und Böse. Dies unterscheiden zu können ist häufig ein Kriterium, um einen Film auch jüngeren Zuschauern zeigen zu können. Aber darin liegt gleichzeitig auch die Gefahr der Vereinfachung und Trivialisierung einer Geschichte. Mit der 6. Klasse der Berliner Grundschule am Kollwitzplatz sahen wir Oskars Amerika – das Langfilmdebüt des norwegischen Regisseurs Torfinn Iversen – in der Berlinale Reihe Generation Kplus. Der 10-jährige Oskar träumt davon, mit seiner Mutter auf einem Pferd in der Prärie Amerikas unterwegs zu sein. Als er erwacht, können wir erkennen, dass es bei ihm zu Hause nicht ganz so einfach ist. Die Mutter hat offensichtlich mit sich und dem Leben Probleme, die sie lieber mit Alkohol löst. Nichts wird aus den gemeinsamen Sommerferien, nichts aus dem Traum, zusammen nach Amerika zu reisen. Stattdessen landet Oskar beim Großvater auf dem Land, der alles andere als sympathisch ist. Oskar soll glauben, dass seine Mutter schon mal nach Amerika gereist ist, um einen Job zu finden und er bald nachreisen kann. In Wirklichkeit versucht sie, in einer Entzugsklinik ihr Leben zu ändern. Oskars einziger Freund wird Levi, ein etwas konfus wirkender Mann, der mit einem weißen Pony zusammenlebt. Oskar und Levi fühlen sich als Außenseiter und beginnen davon zu träumen, gemeinsam auf einem Boot nach Amerika abzuhauen.

Die meisten Schülerinnen und Schüler stuften diesen Film in der Nachbesprechung als typischen Berlinale-Film ein, den man ansonsten eher nicht im Kino zu sehen bekommt. Was sie denn damit meinten, wollten wir von ihnen wissen und Paulina brachte es auf den Punkt: „Na, weil er weniger Action bietet und man eher am Ende darüber nachdenkt.“

Oskars Amerika arbeitet zu Beginn mit einer Traumsequenz und Edgar fand es richtig, dass ein Junge, der es ganz schön schwer hat im Leben, „sich in seine eigene Fantasie zurückzieht und seine Träume hat.“ Das hat den meisten Schülerinnen und Schülern sehr gut gefallen, nur schienen einige Wendungen der Geschichte nicht glaubwürdig genug zu sein. Knut und Magnus konnten „nicht verstehen, wie die Freundschaft zwischen Oskar und Levi so schnell zustande kam.“ Interessanterweise hielt das die Kinder jedoch keinesfalls davon ab, sich sehr stark mit dem Inhalt und den einzelnen Figuren zu beschäftigen. Ava wollte dann auch sofort das entscheidende Thema der Lüge in diesem Film ansprechen. Die Mutter, die ihrem Sohn glauben machen will, in Amerika auf Jobsuche zu sein, obwohl sie in unmittelbarer Nähe in einer Entzugsklinik weilt und der Großvater, der Levi in eine Irrenanstalt schicken will und verschweigt, dass dieser Levi sein eigener Sohn ist. Damit schien der Film dann andererseits auch etwas überfrachtet, denn Feline fand: „irgendwann wurde Levi die eigentliche Hauptperson des Films.“

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Aber das lag möglicherweise auch daran, dass Oskar als Hauptfigur „etwas blass blieb oder weniger Erfahrungen hatte mit dem Schauspielern“, wie Bruno es formulierte oder wie Zoe vermutete, „er vom Regisseur vielleicht nicht gut genug angeleitet wurde, seine Emotionen zu zeigen.“ Aber auch dieser Meinung wollten sich keinesfalls alle Schülerinnen und Schüler anschließen. Selbst der eindeutig negativ gezeichneten Großvater-Figur wurde Verständnis gegenüber aufgebracht: „dem ist die Frau gestorben und die Tochter hat Alkoholprobleme und dann hat er noch einen verrückten Sohn, für den er sich schämt“, fasst es Paulina zusammen.

Die Mutter wurde sehr gut gespielt, wie alle einhellig empfanden, aber in der Diskussion lag die Interpretation über ihre Figur weit auseinander. „Die Lügen waren zu groß“, fand Knut und Vincent ging so weit zu sagen, dass sie „keine gute Mutter“ war, denn sie hätte „mit ihm darüber sprechen müssen.“ Rosa entgegnete jedoch, dass sie sich doch ihrer Alkoholabhängigkeit bewusst war „und bemüht hat, etwas dagegen zu tun.“ Und Luise erkannte, dass sie noch „eine sehr junge Mutter war, die ihren Sohn auf jeden Fall liebt.“ Dieser verrückte Freund Levi schien in seiner Liebe zu seinem Pferd und seiner naiv wirkenden Ehrlichkeit dann auch die positivste Figur des Films zu sein. Nicolas fand ihn „süß und gut gespielt“ und Edgar ergänzte: „den mag man irgendwie von Anfang an, vielleicht auch weil er so bisschen irre ist.“ Kritik gab es an der Detailzeichnung. „Dass der dann auch noch perfekt Bogenschießen konnte, passte gar nicht zu der Figur“, kritisierten Nicolas und Feline.

Oskars Amerika reihte sich thematisch in das Bild der Berlinale-Familien-Beziehungsfilme ein. Und trotz gewisser Glaubwürdigkeitsmängel bot er offensichtlich genügend Stoff, um in eine Auseinandersetzung zu gelangen – dem Regisseur hätte die Diskussion jedenfalls gefallen. Knut fasste am Ende das ambivalente Gefühl so zusammen: „Viele Filme sind ja entweder realistisch oder extrem unrealistisch und hier trifft beides hart auf hart zusammen.“

* * *

Unser nächster Beitrag beschäftigt sich ebenfalls noch einmal mit einem Rückblick auf die Berlinale 2017. Christian Kitter stellt uns in Blicke auf die Welt aus jungen Augen – Die Sektion 14plus bei der 67. Berlinale einige Filme aus der genannten Sektion vor.

Über Leopold Grün

Leopold Grün arbeitete ein Jahr als Grundschullehrer in der DDR, absolvierte anschließend ein Studium der Sozial- und Medienpädagogik in München. An der Humboldt-Universität Berlin studierte er Sozial- und Politikwissenschaften und schloss 2001 an der TU Berlin als Diplom-Medienberater ab. Langjährige Tätigkeit als Medienpädagoge bei der FSF und ab 2004 auch gleichzeitig als freier Filmemacher tätig: Der Rote Elvis und Am Ende der Milchstraße sind unter seiner Regie entstanden. Aktuell arbeitet Leopold Grün als Geschäftsführer bei Vison Kino.