S-Bahnsurfen und Bungee-Jumping gaben früheren Generationen den Kick – Schnee von gestern? Nur zum Teil, ein neuer Trend macht sich breit. Neben den bisher immer noch angesagten Selfies erscheinen nun immer öfter Fotos im Netz, die unter lebensgefährlichen Bedingungen entstehen. Anscheinend geht nichts mehr ohne Handy, nichts mehr ohne Selbstdarstellung in lebensmüden Situationen, mit denen nicht nur das eigene Außenbild in den sozialen Netzwerken, sondern auch das eigene Selbstbewusstsein gestärkt wird.
Selfies als Form der interaktiven Selbstdarstellung sind besonders unter Jugendlichen weit verbreitet und gehören als digitale Kommunikation längst in ihren Alltag. Mittlerweile hat sich mit über 15-Selfie-Typen ein richtiger Selfie-Wahnsinn entwickelt, es existieren u.a. #Duckface“ bzw. „#Entengesicht (Selfie mit besonderer Kussmund-Grimasse), #Belfie (Selfie vom Hintern), #BathroomSelfie (Foto im Bad oder unter der Dusche), #NoMakeUpSelfie oder #Ussie (Gruppenselfie – engl.: us, dt.: wir) – um nur einige zu nennen.
Je auffälliger, desto „besser!“
So wie bei jeder Sucht bzw. Erkrankung extreme Ausprägungen vorkommen, gibt es diese Auswüchse auch beim Selbstporträt. Ob beim Sprung ins Wasser oder beim Fahrradfahren, ob auf dem Dach eines Gebäudes oder mit einer Waffe in der Hand – je auffälliger das Foto, desto „besser!“ Weil ein einfaches Selfie längst zu öde geworden ist, versuchen nun viele sich in einer besonderen Art zu präsentieren. Dabei handelt es sich zum einen um die Gruppe der Jugendlichen, die während ihrer Pubertät anerkannt werden möchten und Antworten auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wie wirke ich auf andere?“ herausfordern. Die Suche nach dem ultimativen Kick findet aber auch bei jungen Erwachsenen statt. Manche Internetnutzer sind mithilfe des neuen gefährlichen Trends #ExtremeSelfies richtig bekannt geworden und haben schon mehr als 200.000 Follower bei Instagram.
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Leider wird dadurch lediglich gezeigt, wie toll und künstlerisch solche Fotos sind, aber nicht wie lebensbedrohlich sie sein können. Auf der Jagd nach beeindruckenden Selbstbildern oder romantischen Fotos beim Sonnenuntergang unterschätzen viele jugendliche Nachahmer die Gefahr. Dabei wurden schon etliche entweder körperlich schwer verletzt oder sind früher gestorben als das Foto veröffentlicht wurde. Weltweit erreichen uns immer wieder traurige Nachrichten über junge Menschen, wie sie ohne Absicherung auf Dächer, Züge und Baustellen klettern und herabstürzen.
Woher kommt der Leichtsinn?
Jugendliche halten sich für unverletzbar und denken, dass solche (tödlichen) Unfälle nur anderen passieren können. Experten am Lehrstuhl für Medienpsychologie der Universität Hohenheim erläutern, dieses leichtsinnige Verhalten basiere auf der Sucht nach Anerkennung, Lob, Akzeptanz und dem Wunsch nach einem höheren sozialen Status unter anderen Altersgenossen. „Teenager erleben das Risiko nicht so negativ wie erfahrene Menschen. Bei ihnen steht nicht die Sorge, sondern die Aufregung im Vordergrund“, so der Psychologe Prof. Peter Walschburger (FU Berlin). Er ergänzt: „Likes bedeuten Akzeptanz und da Jugendliche nun einmal akzeptiert werden wollen, können diese ‚Likes‘ zu immer extremeren Aktionen bewegen“. Für Jugendliche heißt das: „Likes“ um jeden Preis.
Symbole ewiger Freundschaft
Nun breitet sich ein weiterer Trend von extremen Selbstporträts rasant aus: die riskanten #GleisSelfies sind vor allem bei deutschen Schülerinnen sehr beliebt. Einige posieren alleine, andere balancieren auf den Bahnschienen zu zweit und halten sich dabei fest als ein Zeichen ewiger Freundschaft und Untrennbarkeit. Und wieder andere finden es besonders „romantisch“ und „symbolisch“, sich zwischen die Schienen hinzusetzen. Bisweilen sind die Mädchen so vertieft und abgelenkt von diesem Fotoshootingprozess, dass sie den heranrasenden Zug nicht bemerken, ihn auch nicht wie früher hören. Das jüngste Opfer wurde gerade einmal 13 Jahre alt.
Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit dem Thema und mutmaßen, der Reiz der „Gleis-Selfies“ könnte an den parallel laufenden Bahngleisen liegen, die sich niemals trennen und irgendwo zusammenlaufen, wie ein Paar, das sich niemals trennt. Die Statik der Deutschen Bahn verzeichnete im Zeitraum Januar bis Oktober 2015 allein 84 Todesfälle, die sich durch das unerlaubte Betreten der Gleise ereigneten. Dazu gehören neben dem Klettern auf abgestellte Güterwagen, das Abkürzen des Weges über die Gleise eben auch die Selfie-Aktionen.
Wie diesen #ExtremSelfie-Trend aufhalten?
Weltweit erscheinen seit einigen Jahren unterschiedliche Kampagnen. Beispielsweise startete die Deutsche Bahn 2012 die Videokampagne Wir wollen, dass du sicher ankommst zum richtigen Verhalten an Bahnanlagen. Die Warnung vor lebensgefährlichen #GleisSelfies war ein Teil der Kampagne.
In Indien (Mumbai) entstanden 2015 nach etwa 27 Selfie-Todesfällen sogenannte „No-selfie-areas“. Im gleichen Jahr entwarf auch die russische Polizei eine Kampagne mit dem Titel Safe Selfies. Dort gab es im letzten Jahr mindestens 10 Todesfälle und etwa 100 Verletzungen, die durch Selfies entstanden sind. Die Broschüre soll vor allem Jugendliche davor warnen, #ExtremSelfies realisieren zu wollen (z.B. auf Booten, mit Waffen, Tieren oder auf Hausdächern).
Trotz bereits einiger bestehender Präventionskampagnen (z.B. Bundespolizei, Deutsche Bahn) gibt es immer noch einen sehr großen Bedarf an weiteren Jugendschutzprogrammen, damit Jugendliche die Gefahren nicht unterschätzen, sondern deren Risiko richtig bewerten und sich selbst schützen können. Von allein wird der tödliche Trend wohl kein so schnelles und „gutes“ Ende nehmen.