Interaktives Fernsehen

Einem bekannten Bonmot zufolge sind Prognosen besonders dann schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Dies gilt nicht nur, aber in besonders auffälliger Weise, für Prognosen über die Zukunft der Technik. Wo sind sie heute beispielsweise, die unzähligen Zeppeline, die laut vielen Prognosen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Zukunft des Luftverkehrs bestimmen und den Himmel füllen würden?

In einer Mediengesellschaft, in der technischen Medien eine Schlüsselrolle in Gegenwart und Zukunft zugeschrieben wird, ist natürlich die Medienzukunft von besonderem Interesse. Prognosen sind hier vom Zusammenspiel von gleich vier Faktoren abhängig, ein Misslingen jeder Vorhersage also wahrscheinlich und jede Häme daher unangebracht. Erstens muss die Technikentwicklung bedacht werden, zweitens die ökonomischen Chancen von deren Umsetzung in Marktangebote, drittens die medienkulturelle Akzeptanz solcher Angebote, die viertens erst vor dem Hintergrund allgemeiner soziokultureller Entwicklung einschätzbar wird.

Gescheiterte Prognosen sind trotzdem interessant, weil sich in jedem Einzelfall im Nachhinein gute Gründe des Scheiterns ermitteln lassen, aus denen sich manches lernen lässt. Ein Musterbeispiel ist in dieser Hinsicht das „interaktive Fernsehen“. Mitte der 1990erJahre war es in vielen Ländern, nicht nur den USA und Deutschland, ein Schlüsselthema der Medienentwicklung. Aus heutiger Sicht mutet es etwas merkwürdig an, dass das Nachdenken über die Medienzukunft damals noch das Fernsehen als Ausgangspunkt hatte, aber dies geschah aus gutem Grund. Fernsehen war nicht nur für die „Fernsehgeneration“, die mit diesem Medium aufgewachsen war, das „Leitmedium“, sondern für die gesamte Bevölkerung. 1995 lag der Anteil der Internetnutzer in Deutschland – laut Zahlen der Weltbank – gerade einmal bei 1,8 %. Aber es ist nicht nur auf das fehlende Internet zurückzuführen, dass zu dieser Zeit „interaktives Fernsehen“ als faszinierendes Konzept erschien.

Das beginnt schon bei der Benennung, die auf den ersten Blick Interesse weckt, weil sie genau genommen ein Oxymoron darstellt, also einen in sich widersprüchlichen Ausdruck. „Fernsehen“ bedeutet traditionell, dass es einen Sender gibt, der viele Empfänger erreicht. Diese Empfänger haben aber keine Möglichkeit der unmittelbaren Rückmeldung, auf die der Sender erst recht nicht auf gleichem Wege antworten könnte, was erst tatsächliche Interaktion darstellen würde. Diese Form der Benennung mit Überraschungseffekt ist kein Einzelfall – auch der „Schnelle Brüter“ ist ein Oxymoron, da in der Natur Brüten ein eher langwieriger Vorgang ist.

„Interaktives Fernsehen“ ist aber nicht nur dadurch ein interessanter Begriff, weil Fernsehen an sich nicht interaktiv ist, er ist zugleich sehr unscharf, was Raum für viele Phantasien lässt. Zur Zeit der ersten Pilotprojekte in den USA und in Deutschland Mitte der 1990erJahre reichte das Spektrum der damit assoziierten konkreten Angebote von der schlichten Vermehrung des Fernsehangebots um hoch spezialisierte Spartenkanäle über zusätzliche Formen des (bezahlpflichtigen) Abruffernsehens (z. B. Video-on-Demand) bis zu Homeshopping und Eingriffen des Zuschauers in Sendeinhalte. So etwa bei Gameshow-Kanä- len, bei denen sich Fernsehzuschauer per Tastendruck auf die Fernbedienung aktiv an den Spielen beteiligen können sollten.

Wie so häufig in der Medienentwicklung war auch hier das radikal Neue nicht, dass es sich um völlig unbekannte Phänomene handelte, sondern Vertrautes wurde auf radikal neue Weise angeboten – plus einigen echten Innovationen, die bei den Vorläufertechnologien nicht möglich waren. „Video-on- Demand“ bedeutete vorher, dass man sich Video kas setten des Wunschfilms ausleihen oder kaufen musste; „Homeshopping“ die Bestellung von Artikeln per Post aus Versandhauskatalogen. Auf zeitgenössische Weise interaktiv wurde das Fernsehen bis 1995 ausschließlich mithilfe der Deutschen Bundespost – entweder über Postkarten, mit denen beispielsweise das eigene Votum über einen „Wunschfilm“ abgegeben wurde, oder über das Telefon via „TED“, dem „Tele-Dialog“, einem Abstimmungssystem für alle möglichen Zwecke. Auch interaktive Gameshows gab es schon lange vor den 1990er-Jahren – seit 1964 steuerten in der ZDF-Show Der goldene Schuß Spielteilnehmer aus ihrem Wohnzimmer eine televisionäre Armbrust (tatsächlich von einem Kameramann mit verbundenen Augen bedient) in Echtzeit durch telefonische Kommandos.

Von all dem unterschied sich das „interaktive Fernsehen“ der 1990er-Jahre vor allem dadurch, dass kein Medienwechsel mehr nötig war. Man benötigte nur noch einen Fernsehapparat, eine Set-Top-Box und eine einzige, spezielle Fernbedienung. Als Zuspielkanal fungierte Breitbandkabel, als Rückkanal diente meist das schmalbandige Telefonnetz. Mit anderen Worten: Das „interaktive Fernsehen“ war zunächst einmal die Verwirklichung eines Technikertraums. Um auch zu einem Markterfolg zu werden, hätte es origineller Angebote zu vernünftigen Preisen bedurft, mit denen begeisterte Kunden hätten gewonnen werden können. An all dem mangelte es jedoch, und die um 1995 gestarteten Pilotprojekte scheiterten durchweg. Die hohen Anlaufkosten hatten hohe Preise zur Folge, die Angebote beschränkten sich weitgehend auf Varianten von Video-on-Demand und Homeshopping – also ausgerechnet die Anwendungsformen, die am wenigsten mit utopischen Vorstellungen von einem Fernsehen der Zukunft zu tun hatten. Obendrein erschien vielen Nutzern daher die geheimnisvolle Set-Top-Box auf ihrem Fernsehapparat bloß als eine mit dem Telefonnetz verbundene elektronische Registrierkasse. Und wer findet es schon toll, als medientechnische Innovation eine Registrierkasse im Wohnzimmer zu haben? „Interaktives Fernsehen“ blieb daher ein kurzes Vorspiel für den folgenden tatsächlichen radikalen Medienwandel – ausgelöst durch die flächendeckende Verbreitung des Internets, das alle Versprechen des „interaktiven Fernsehens“ einlöste und sogar noch viel mehr ermöglichte.

 

Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs 1/2016 Im globalen Dorf. Wie Medien unser Leben neu organisieren erschienen und steht auf unserer Website als Download zur Verfügung.

Über Gerd Hallenberger

Dr. phil. habil. Gerd Hallenberger forscht als freiberuflicher Medienwissenschaftler über Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).