Karl Lämmle.
Mal ganz ehrlich: In welcher Branche würden Sie einen Mann dieses Namens vermuten? In der Gastronomie? Vielleicht in der Landwirtschaft oder im Einzelhandel? Jedenfalls wäre die US-amerikanische Filmbranche möglicherweise nicht unbedingt die am nächsten liegende Antwort. Zu Recht: In den amerikanischen White und Yellow Pages gibt es keinerlei Einträge mit identischer Schreibweise (selbst dann, wenn man den Vornamen bei der Suche weglässt). Anders in Deutschland: Der Onlineauftritt der Gelben Seiten ergibt für den Namen Lämmle 64 Treffer: Gegenwärtig gibt es hierzulande Geigenbauer, Architekten, Gastwirte, Bäcker, Schreiner und einige mehr dieses Namens (darunter übrigens nur einen Karl). Die Medienbranche ist nicht vertreten. Noch eindeutiger ist die geografische Einordnung: Die Suche nach Karl Lämmle im deutschen Online-Telefonbuch ergibt aktuell sieben Treffer (neun, wenn man Karl-Heinz dazu nimmt), alle im Postleitzahlenbereich 7 und 8. Abgesehen von München, alle fernab von sämtlichen Unternehmen, die sich der Herstellung und Verbreitung von Medien verschrieben haben. Und trotzdem hat eben ein Karl Lämmle die Filmbranche, wie wir sie heute kennen, ganz wesentlich geprägt; die Filmmetropole Hollywood mitbegründet. Nicht im geografischen Sinn. Das hatte Hobart Johnstone Whitley bereits 1886 erledigt. Da war Karl Lämmle 19 und Laufbursche in einem Chicagoer Drugstore.
Die Geschichte von „Onkel Karl“ – wie er Jahrzehnte später genannt werden wird – beginnt am 17. Januar 1967 im idyllischen, aber ansonsten arg provinziellen Städtchen Laupheim in Oberschwaben. Als Sohn jüdischer Eltern wurde er früh mit der Ungerechtigkeit konfrontiert, die Mitgliedern jüdischer Gemeinden schon lange vor dem Holocaust widerfuhren. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er 1884, mit gerade einmal 17 Jahren und nach dem Tod seiner Mutter, beschloss, nach Amerika auszuwandern. Zunächst mit der Idee, auf die absolvierte Kaufmannslehre im Textilbereich aufzubauen. Chicago – wo sein älterer Bruder Joseph bereits seit elf Jahren lebte – schien ihm zu diesem Zweck offenbar besser geeignet als die schwäbische Provinz. Trotzdem blieb Laemmle – der mittlerweile den lästigen, da sofort als Einwanderer entlarvenden Umlaut abgelegt hatte – der übliche Karrierestart nicht erspart. Zwar nicht klassisch als Tellerwäscher, doch fristete er die ersten Jahre in der „neuen Welt“ ein Dasein als Erntehelfer, Laufbursche für einen Drugstore und Fußbodenschrubber.
Die erste Wende brachte eine Anstellung bei einer Textilfabrik in Oshkosh, Wisconsin – noch heute eine Hochburg für deutsche Auswanderer (jedenfalls für diejenigen, die keinen Vertrag mit VOX haben). Zunächst Angestellter, übernahm er dort bald die Geschäftsleitung – wieder zurück in der Provinz, weshalb er den Posten 1906 rasch gegen die Selbstständigkeit in Chicago eintauschte. Und zu einer Zeit, lange bevor wir zu glauben begannen, dass die Berufsbekleidung des Weihnachtsmannes Coca-Cola-farben sein müsse, feierte Carl Laemmle erste Erfolge mit ausgefallener Werbung. Ein roter Faden, der sich von nun an durch seine berufliche Karriere ziehen sollte (über sein privates Umfeld ist kaum etwas bekannt, aber irgendwie muss er ja auch seine Frau Recha Stern umworben haben).
Zurück in Chicago entdeckte Carl Laemmle durch Zufall ein Nickelodeon – ein mobiles Filmtheater, das für fünf Cent (Nickel) eine Reihe an Kurzfilmen zeigte. Das war der Beginn des kometenhaften Aufstieges von „Uncle Carl“, der fortan lieber die erste US-amerikanische „Kinokette“ aufbaute, als Kleidung zu verkaufen. Bis dahin waren Nickelodeons Jahrmarksensationen, etwa so wie heute mobile Boxringe oder (weit weniger gruselige) Geisterbahnen. Dunkel und ein bisschen schmuddelig richteten sie sich an eine Zielgruppe, die man aus heutiger Sicht vermutlich nicht verdächtigen würde, Arte oder Phoenix zu ihren favorisierten Fernsehsendern zu zählen. Laemmle sah das Potenzial der günstigen Ware Film. Seine Idee: Die dunklen, schäbigen Nickelodeons etwas aufpolieren, um die Zielgruppe erweitern zu können – mit hellen Farben (soweit im Kino möglich …), einem neuen Anstrich und freundlichem Mobiliar. Das funktionierte. Fortan kamen Mitglieder sämtlicher Bevölkerungsschichten ins Kino.
In kurzer Zeit gehörten Laemmle 50 Lichtspielhäuser – im Wesentlichen finanziert durch die Gründung eines Filmverleihs, der bereits 1908 der größte des Landes war (und den er nebenbei auch erfand und damit wohl mehr mit seinem späteren Widersacher Thomas Edison gemeinsam hatte, als er glaubte). Und wieder setzte er auf Werbung: „I am the moving picture man“ tönte er von Plakaten im ganzen Land. Doch bald schon wollte er auch für die Inhalte seiner Kinos verantwortlich sein. 1909 drehte Laemmle mit Hiawatha seinen ersten Film. Der ebenfalls nicht ganz bescheidene Hinweis „Carl Laemmle presents“ erschien seit 1910 in jedem Film, der von der neu gegründeten New Yorker Independent Motion Picture Company (IMP) produziert wurde ‒ natürlich mit Laemmle als Studioboss an der Spitze. Im selben Jahr gelang ihm der wohl größte Werbecoup: Per Zeitungsannonce streute er in St. Louis ‒ warum auch immer gerade dort ‒ das Gerücht, das ehemalige „Biograph Girl“ Florence Laurence sei bei einem Straßenbahnunfall in San Francisco ums Leben gekommen. Einen Tag später dementierte er dieses Gerücht vehement als Angriff der Konkurrenz ‒ natürlich nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass eben diese Aktrice in Kürze ihren ersten Film als „IMP Girl“ drehen würde. Ihr Name erschien von nun an auf großen Lettern in den Kinos des Landes. Das Starsystem war geboren. Allerdings ist nicht überliefert, ob Laemmle bedacht hatte, dass dieser Umstand die Gagen in exorbitante Höhen katapultieren würde. Tom Cruise, Harrison Ford und Co. sind ihm vermutlich noch heute dankbar …
1912 fusionierte IMP mit anderen Firmen zur Universal Moving Picture Manufacturing Company ‒ einem der allerersten Filmstudios an der amerikanischen Westküste. Denn dort war das Wetter besser, waren die Gagen niedriger und die Chancen geringer, mit Thomas Edisons Motion Picture Patents Company aneinander zu geraten. Thomas Edison konnte ziemlich unangenehm werden. Kurz darauf entstanden auf einer 170 Hektar großen Hühnerfarm die Universal City Studios (die heute mit Hühnern noch genauso viel zu tun haben wie Arnold Schwarzenegger mit Politik) ‒ die größten des Landes und als Teil der Big Five Mitglied des zweiten Oligopols. Und wieder rührte Laemmle die Werbetrommel auf bisher ungekannte Weise: Ab 1915 lud er Besucher zu einer Studiotour nach Universal City ein. Damals hatte die Ausrichtung des Unternehmens inhaltlich aber noch nichts gemein mit der „Filmstudio-goes-Vergnügungspark“-Mentalität von heute. Vielmehr glänzte Universal durch Horror- und Kriegsfilme. Der Glöckner von Notre Dame (1925), Im Westen nichts Neues (1930), Dracula (1930) und Frankenstein (1931) entstanden alle unter Laemmles Verantwortung ‒ einige unter der Regie seines Sohnes Julius Carl Junior, der sich leider als völlig unfähig erwies, ein Unternehmen dieser Größe sinnvoll zu leiten.
Carl Laemmle Senior, seit 1894 amerikanischer Staatsbürger, hielt trotzdem Zeit seines Lebens Kontakt nach Deutschland ‒ und erlebte, wie dort der reale Horror Ausmaße annahm, die kein Film hätte grausamer erzählen können. Seine Heimatstadt schwankte ab den 1920er-Jahren zwischen der Entscheidung, ihm die Ehrenbürgerwürde zu verleihen oder ihn ‒ den Juden ‒ hochkant aus der Stadt zu jagen. Dabei unterstütze der „Onkel aus Amerika“ seine Heimatstadt, wo er nur konnte. So stiftete er etwa ein Schwimmbad, eine Schule und ein Waisenhaus. Noch bis 1929 leitete Laemmle Universal von der Ostküste aus, um dort nach dem frühen Tod seiner Frau seine Kinder erziehen zu können. Erst dann zog er selbst auch nach Hollywood.
1936, als die große Depression nahezu alle Branchen lahm gelegt hatte, die nicht zwingend zum Überleben nötig waren, musste Laemmle sein Lebenswerk verkaufen. Die letzten drei Jahre seines Lebens widmete er sich verstärkt sozialen Aufgaben. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebte er nur noch knapp. Doch bis zu seinem Tod durch einen Herzinfarkt im September 1939 in Beverly Hills soll der „nette Onkel Karl aus Laupheim“ mehr als 300 jüdischen Bürgern seiner Heimatstadt durch Bürgschaften die Ausreise nach Amerika ermöglicht und ihnen so das Leben gerettet haben. So bedeutsam der Film und sein Studio auch sein mögen ‒ das war wohl die größte Lebensleistung des Kaufmanns aus Schwaben.
Mehr zur Filmgeschichte Hollywoods gibt es in diesem Zweiteiler:
Mythos Hollywood – Ein (nicht ganz vollständiges) Geschichts-Potpourri Tinseltowns
Vom „Golden Age“ zu „New Hollywood“