Nicht weit entfernt von meinem Dorf steht am Ufer eines Sees ein kleines Sommerhaus, das auf mich eine besondere Faszination ausübt. Hier finde ich eine einzigartige Schnittmenge aus Natur, Kultur und Zeitgeschichte. John Heartfield, Pionier der politischen Fotomontage, hatte sich – nach Exil und unsäglicher Formalismusdebatte in der frühen DDR gesundheitlich stark angeschlagen – das Häuschen 1956 nach eigenen Entwürfen bauen lassen. Bis zu seinem Tod 1968 fand er an diesem Ort Inspiration und seelische wie körperliche Erholung. Heute ist das Haus in seiner ursprünglichen Form kongenial restauriert und eingerichtet. Der Einzelbesucher ist eingeladen, hier für sich so etwas wie einen Meditationsraum zu finden. Manchmal bittet aber auch der Trägerverein zu Veranstaltungen. So Ende Juli 2016 mit Blick auf den Buchgestalter und Grafiker Werner Klemke. Mehr als 80 Gäste waren gekommen.
Unter ihnen viele Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft. Offenbar bin ich in den letzten Jahren doch mehr in den Sog neuer medialer Formate geraten als gedacht. Jedenfalls war ich völlig überrascht, dass es diesen Verein der Bücherfreunde in so lebendiger Form noch gibt. Natürlich musste ich gleich das Heft 221 von deren Vierteljahresschrift „Marginalien“ erwerben. Der bibliophile Druck war zeitgemäß in Folie ein geschweißt. Ich holte also mein „Opinel“ – ein etwas kräftigeres Taschenmesser – aus der Jackentasche und versuchte, die lästige Hülle zu entfernen. Obwohl ich ziemlich selbstvergessen auf mein Tun konzentriert war, spürte ich plötzlich die Augen aller Umsitzenden auf mich gerichtet. Dann stand auch schon eine Vertreterin der Veranstalter vor mir und bat mich, das Messer schnell wegzustecken. Es war gerade wenige Tage her, dass in Würzburg Fahrgäste in der Regionalbahn mit einer Axt attackiert worden waren. Nun ist kaum anzunehmen, dass ausgerechnet die Pirckheimer durch irgendwelche Boulevardmedien hinsichtlich des Anschlags allzu übermäßig emotionalisiert worden sind. Angst angesichts eines Taschenmessers im Publikum hatten sie trotzdem.
Meine dörflichen Pappenheimer sind da noch etwas robuster. Ein Taschenmesser ist hier ein normales Werkzeug, das der Mann üblicherweise bei sich trägt. Wer es möchte, läuft unbefangen mit der Sense durchs Dorf und wenn der Nachbar zur Jagd geht, dann hat er selbstverständlich seine Flinte dabei. Die potenziell wehrhaften Geräte werden anders eingeordnet, doch auch das ist bei genauerem Hinsehen vielfach durch Angst motiviert.
An jedem ersten Sonntag im Monat sitzen wir in meinem Garten zum Frühschoppen zusammen. Das hatte ursprünglich ganz klein mit einem Bierchen unter Nachbarn angefangen. Inzwischen wird die Runde immer größer. Obwohl unsere Gemeinde recht überschaubar ist, hat auch hier modernes Leben zu zunehmender Vereinzelung geführt. Der Frühschoppen – woanders heißt das vielleicht Kochgruppe oder Tangozirkel, es läuft aber auf das Gleiche hinaus – bietet Gelegenheit zu ganz praktischem Austausch, vor allem zur Möglichkeit, über Sorgen und Nöte, aber auch über Erfolge zu sprechen. Am ersten Augustsonntag war hier ebenfalls der Würzburger Axtattentäter Thema. Im Unterschied zu den Pirckheimern wurde allerdings eher gefragt, ob die Sensen und Jagdgewehre ausreichten, um eine solche Katastrophe in unserem Dorf abzuwenden. Die Skepsis war letztendlich ziemlich groß. Vielleicht müssen eher die Zäune höher und die Türschlösser stabiler werden? Eines stand aber für alle fest: Bevor irgendwelche staatliche Hilfe käme, wäre das ganze Dorf niedergemetzelt. Peter – seit Auflösung der hiesigen LPG am Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar, für die Einheimischen aber eine Art Weltversteher, bei dem man gern Rat sucht – warf das Kürzel ABV in die Sonntagsrunde. Es folgte betretenes Schweigen. Meinte Peter wirklich den Abschnittsbevollmächtigten, der zu DDR-Zeiten die staatliche Ordnung im Ort durchsetzen sollte? Jemand nahm schließlich den Gedanken auf und übersetzte den diskreditierten Begriff mit Dorfpolizisten. Da waren sich alle schnell einig. Ein Ordnungshüter, der alles kennt, den alle ansprechen können und der erkennbar die staatliche Schutzfunktion repräsentiert, den brauchen wir.
Doch was haben wir? Es folgten sarkastische Witze über das Internetportal der Brandenburger Polizei. Als im vergangenen Jahr einige Neu-EU-Bürger in bedenklicher Größenordnung den freien Handel über offene Grenzen für sich dahin gehend deuteten, dass sie in unserer Region Agrar- und Handwerksbetriebe ungefragt um deren Technik erleichterten, um diese dann via Polen in Litauen oder Rumänien zu Geld zu machen, bildeten sich in grenznahen Dörfern Bürgerwehren. Plötzlich stand das staatliche Gewaltmonopol infrage. Eine Hundertschaft der Bundespolizei sorgte schließlich für Beruhigung. Doch wie lange helfen solche temporären Aktionen?
Einseitiges Kosten-NutzenDenken hat das öffentliche Agieren inzwischen so anonym gemacht, dass man fragen möchte, ob hier nicht ein systemrelevantes Problem vorliegt. Eingekauft wird in Supermarktzentren, die Sparkasse verlegt das Filialgeschäft in Finanzzentren, die Post denkt darüber nach, wie sie nach den Ämtern auch die Zusteller ersetzen kann, Landarztstellen sind in der Gesundheitsindustrie ökonomisch unattraktiv und die Kinder werden täglich in Schulzentren kutschiert. Das alles lässt angesichts der damit verbundenen Effizienz das Bruttosozialprodukt steigen und damit die Steuereinnahmen sprudeln. Der Preis ist Einsamkeit und auf Einsamkeit folgt Angst. Noch haben wir im Dorf eine Freiwillige Feuerwehr. Deren Bestand ist aber in Gefahr. Nicht weil der Ort etwa vergreist, sondern weil es in der Region immer weniger Arbeitsplätze gibt, die es möglich machen, in der Feuerwehr zu dienen. Wir haben gerade den Pumpenspezialisten verloren. Das Controlling in dem Kommunikationsunternehmen, wo er angestellt ist, hat die Face-to-Face-Kundenbetreuung als unrentabel und folglich als überflüssig eingestuft. Ein neuer Arbeitsplatz im Unternehmen wurde dem jungen Vater, der hier gerade ein altes Bauernhaus ausgebaut hat, in Nürnberg angeboten. Nun pendelt er an jedem Wochenende hin und her. Es wird gern darüber nachgedacht, inwiefern Medien durch bestimmte Formen der Berichterstattung oder der Inszenierung individuelles Fehlverhalten provozieren.
Bei unserem Frühschoppen hat die Medienpräsentation des Würzburger Attentats überhaupt keine Rolle gespielt. Die Information wurde ausschließlich mit Blick auf die eigene Lebensrealität gebrochen und erst hier fanden sich bedenkliche Assoziationen. Manchmal denke ich: Der stete Fingerzeig auf die Medien angesichts von Problemen verweist auf eine Ersatzspielwiese, wo Spekulationen munter sprudeln können und die zudem hinsichtlich der Problemlösung nicht viel kostet.
Die Kolumne von Klaus-Dieter Felsmann erschien in der 78. Ausgabe der tv diskurs:Terror. Mediale Aufmerksamkeit als Motiv zur Verfügung.