The Fall und Top of the Lake sind zwei sehr interessante Zwillingsserien. In beiden geht es darum, wie sich Männer und Frauen in einer Welt verhalten, in der sich Rollendefinitionen ständig ändern. Beide Serien haben starke weibliche Hauptfiguren: Polizistinnen. Beide untersuchen Fälle, in denen es um Gewalt gegen Frauen geht, die sich beide in einer männerdominierten Welt klischeehaften Vorstellungen über ihr Verhalten ausgesetzt sehen.
Der tief greifende Unterschied zwischen diesen beiden Serien ist jedoch die Art, wie diese Traumata die Persönlichkeiten der Hauptfiguren bestimmen.
Stella Gibson wird zu Beginn der Serie als kompromisslose Ermittlerin eingeführt, die sich ihre Rolle in der Welt vor allem von Männern nicht vorschreiben lässt. Sie ist unabhängig, hoch professionell und schert sich nicht um politische und gesellschaftliche Konventionen, von denen der Fall, den sie übernimmt, durchdrungen ist. Gillian Anderson spielt die Rolle mit einer physischen Kontrolliertheit, Präzision und Unnahbarkeit, die einem mitunter schon fast unheimlich wird. Dennoch kommt Stella in der ersten Staffel hauptsächlich als unabhängige, starke Figur rüber – und sowohl der Schauspielerin als auch der Figur sieht man mit Freude bei der Arbeit zu. Ihren grandiosen „man fucks woman/woman fucks man“-Kurzmonolog habe ich schon an anderer Stelle zitiert. In der zweiten Staffel jedoch wird die Stärke der Figur unterminiert. Denn man erfährt mehr über ihre Vergangenheit und, dass sie tief greifende emotionale Probleme hat. Plötzlich erscheint ihre Stärke nicht nur als Stärke, sondern hauptsächlich als Abschottungsmechanismus, als eine Art Schutzschild und damit als Defekt und nicht mehr als Charaktermerkmal einer außergewöhnlichen Frau.
Ein ähnliches Beispiel für eine vornehmlich gefühlskalte Hauptfigur mit schwieriger Kindheit ist die Ermittlerin Saga Norén (Sofia Helin) in der schwedischen Serie The Bridge. Auch wenn die Serie keine eindeutige Verbindung zwischen ihrer schweren Vergangenheit und ihrem eigenwilligen Charakter herstellt, so wird diese zumindest angedeutet. Ihre Figur ist ungewöhnlich und spannend, weil vor allem von Logik getrieben, wodurch sie einige sehr treffende Beobachtungen zu gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten anstellt. Etwas, wodurch sie selbst nicht gesteuert wird. Bei ihr wird die emotionale Distanziertheit auf die Spitze getrieben, in dem sie Emotionen anderer überhaupt nicht versteht und einschätzen kann. Ähnliche Beispiele sind Sarah Linden in The Killing oder Carrie Mathison in Homeland.
Eine ganz andere Darstellung schafft Jane Campion mit ihrer Hauptfigur der Robin Griffin in Top of the Lake, gespielt von der wunderbaren Elisabeth Moss.

Ihr Umgang mit ihrer Vergewaltigung ist nicht in den Klischees der emotionalen Schutzschild-Kälte gefangen. Ihre Persönlichkeit wird nicht hauptsächlich durch ihre Vergangenheit bestimmt. Ihre Stärke wird nicht als Ergebnis des erlebten Traumas dargestellt und so nicht als Ergebnis von Distanziertheit und Abschottung. Sie kann mit diesem Fakt ihres Lebens umgehen, gerade weil sie stark ist. Nicht umgekehrt. Was sie nicht davon abhält, die Kontrolle zu verlieren und einem ihrer Vergewaltiger bei unpassender Gelegenheit nach Kräften eine zu verpassen. Doch genau das macht sie zu einer der mehrdimensionalsten und lebendigsten weiblichen Figuren, die das Fernsehen in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Und sie steht im deutlichen Gegensatz zu vielen anderen weiblichen Antihelden.
Männliche Antihelden sind seltener durch Traumata charakterisiert. Sie brauchen offenbar nicht zwingend eine komplizierte Ursprungsgeschichte, um vielschichtig zu sein. Bei Männern reicht bisweilen einfach ein überbordendes Ego – siehe Vic Mackey (The Shield) oder Walter White (Breaking Bad). Und wenn sie doch eine schwere Vergangenheit haben, dann hat das einen ganz anderen Effekt. In diesem Fall weisen Männer zwar oft ähnliche Eigenschaften auf, wie ihre weiblichen Gegenstücke. Auch sie sind dann emotional gestört, distanziert und nicht in der Lage, stabile zwischenmenschliche Beziehungen zu unterhalten. Doch das macht sie nicht zu unnahbaren Eisköniginnen, sondern zu unwiderstehlichen Mysterien. Don Draper (traumatisiert durch den Krieg), Rust Cole (traumatisiert durch den frühen Tod seiner Tochter), Nicholas Brody (traumatisiert durch Krieg und Gefangenschaft) … ihre Erlebnisse machen sie zwar defekt, aber enigmatisch – eine Art Batman-Phänomen. All die oben erwähnten Frauenfiguren sind ausgesprochen interessant geschrieben und DIE zentralen Figuren in großartigen Serien, keine Frage. Es ist absolut zu begrüßen, dass die Serienlandschaft bald mit genauso vielen ‚schwierigen Frauen‘ wie ‚schwierigen Männern‘ bevölkert sein wird. Doch man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wieso Frauen offenbar erstens traumatisiert sein müssen, um zu vielschichtigen und starken Persönlichkeiten zu werden. Und wieso sie zweitens dadurch häufig zu weiblichen Versionen von Sheldon Cooper werden.
Top of the Lake läuft ab dem 05. August 2015 auf Arte.