Live muss es sein

Seit Anfang des Jahres hat Facebook eine neue Funktion: Live-Videos. Man findet sie auf der Startseite unter Apps – und dort kann man nicht nur die Videos sehen, die die eigenen Freunde gerade live senden, sondern alle Videos, die gerade auf Facebook laufen. An einem durchschnittlichen Mittwochvormittag fand ich dort den Versuch zweier isländischer Teenager, Stunts mit einem Skateboard zu machen, eine Zahnarztbehandlung in Portugal, eine Pressekonferenz zum Staatsbudget in Nordland (Norwegen), ein Interview mit einem Taxifahrer in Ghana und das Lip-Syncing eines Teenagers zu einem Rihanna-Song in New York. Diese Videos hatten zwischen 45 und 2000 Zuschauer – und sie verbindet eine gewisse voyeuristisch-selbstdarstellerische Neigung mit tatsächlichem Nutzen.

Angefangen hat Facebook Live in den USA. Dort war es zunächst Personen des öffentlichen Lebens vorbehalten, Videos von sich oder aus ihrem Leben live zu streamen, bis das Feature schließlich gänzlich freigegeben wurde. Die Bedienung ist einfach: Facebook öffnen, Status aktualisieren, auf Video klicken, kurze Beschreibung eingeben und Liveübertragung starten. Diese Übertragung darf maximal 30 Minuten dauern, sie wird wie ein normales Video in der Chronik gespeichert und kann danach angesehen werden.

Bereits während der Liveübertragung können Nutzer dieses Video kommentieren und Fragen stellen. Dadurch bieten sich natürlich neue Möglichkeiten der Interaktion, zudem können auch bestimmte Ereignisse festgehalten werden, indem Bilder aus Redaktionen, von Konzerten oder Demonstrationen (wie hier bspw. am 10. Oktober bei Eyewitness News die Proteste von Studierenden der Wits University in Südafrika) zu sehen sind.

Screenshot Sonja Hartl Facebook Live
Screenshot Sonja Hartl Facebook Live
Screenshot Sonja Hartl Facebook Live
Screenshot Sonja Hartl Facebook Live

Außerdem können auf diese Weise Menschen auch aktiv teilhaben, die nicht vor Ort sind. Zum Beispiel nutzt das Bundeswirtschaftsministerium diese Funktion bereits recht regelmäßig, um mit Bürgern und Interessierten in den Dialog zu treten – in Fragestunden oder bei Veranstaltungen, die dann live gestreamt werden.

Screenshot Sonja Hartl, 2016-10-10 11.02
Screenshot Sonja Hartl

Und auch der oben erwähnte Zahnarzt wollte mit diesem Video vor allem über bestimmte Eingriffe aufklären.

Ein Live-Video verspricht somit Teilhabe und auch Authentizität. Während Fotos manipuliert werden können, so dass schon von einer Instagram-Ästhetik gesprochen wird, bleiben Live-Videos (noch) unberechenbarer und sind – zumindest für noch unerfahrene Nutzer – nur schwer zu manipulieren. Interessant ist zudem, dass Facebook die Videos besonders unterstützt: Man bekommt eine Nachricht, wenn Freunde oder gelikte Seiten ein Video streamen, sie erhalten einen guten Platz im Newsstream. Beispielsweise wurden die Videos von NPR vom Super Tuesday angeblich siebenmal so lange angesehen wie traditionelle Videos. Und je länger Videos angesehen werden, desto länger bleiben Nutzer auf der Plattform. Es heißt, Facebook will daher die Echtzeit-Berichterstattung weiter ausbauen, schon bald sollen u.a. Sportveranstaltungen gestreamt werden.

Mit den Videos bewegt sich Facebook einen weiteren Schritt hin zum Echtzeit-Netzwerk. Hier hängt es weiterhin Twitter hinterher (das diesen Eindruck durch eine Algorithmus-Timeline gerade selbst ruiniert). Überdies greift Facebook damit den Erfolg von Video-Apps wie Periscope, Snapchat und letztlich auch YouTube vom großen Konkurrenten Google an. Gerade unter Jugendlichen ist YouTube aufgrund der Videogestalter populär, die dort ihre Sendungen haben. Mit der neuen App könnte Facebook sie abwerben – oder ganz neue Videokünstler bekannt machen. Somit gilt bei den Livevideos wie bei vielen anderen Features: Entscheidend ist, was die Nutzer daraus machen.

Über Sonja Hartl

Sonja Hartl studierte Deutsche Sprache und Literatur, Medienwissenschaft und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg und schreibt seither als freie Journalistin über Film, Fernsehen und Literatur. Außerdem betreibt sie das Blog Zeilenkino und ist Chefredakteurin von Polar Noir.