Vorbilder in Fernsehsendungen aus Jugendschutzsicht

Als Kind wusste ich genau, wie ich mich als Befragte in einem Mordfall verhalten würde: Ich würde den Kommissar und seinen Assistenten in den Salon bitten, ich würde einen Cognac anbieten, nervös an meiner Zigarettenspitze ziehen und äußerst gereizt selbst auf banalste Fragen reagieren. Ich hatte Der Kommissar gesehen und wusste Bescheid. Dass man sich am Esstisch nicht die Fingernägel schneidet wie „Ekel“ Alfred Tetzlaff in Ein Herz und eine Seele, wusste ich auch – das gemeinsame Sehvergnügen bestand hier eben in der geteilten Abneigung und Abgrenzung.

Das Fernsehen ist voller Leitfiguren. Es zeigt ferne und unbekannte Lebenswelten und beispielhafte Lebensentwürfe, bietet Wertvorstellungen und komplexe Verhaltensregeln an – ‚gute’ und ‚schlechte’ Vorbilder. Viele Vorbilder haben schlicht keine Alltagsrelevanz, werden von anderen Eindrücken oder Trends überlagert und zeitlich überholt. Die wenigsten Menschen werden je von einem Kommissar befragt, und niemand würde heute einem Beamten im Dienst Alkohol anbieten. Oft ist das Verhalten auf einen sehr spezifischen Kontext beschränkt, der wenig Anknüpfungspunkte zur eigenen Lebenswelt bietet. Die meisten Kinder, die aus Germany´s next Topmodel wissen, wie ein Cover-Shooting für die Cosmopolitan funktioniert, werden nie in eine Situation geraten, in der sie dieses Wissen anwenden können. Und viele Vorbilder, die Ausschnitte aus der Wirklichkeit  stark verzerrt darstellen, werden spätestens dann korrigiert, wenn sie auf die Realität treffen: Wer meint, dass ein Strafprozess so abläuft wie eine Gerichtsshow und sich entsprechend verhält, dürfte sehr bald des Saales verwiesen werden.

Ein Stück weit scheint Gelassenheit geboten: Kinder und Jugendliche übernehmen die angebotenen Rollenbilder und Muster nicht ungefiltert in ihr eigenes Verhaltensrepertoire und akzeptieren Werte nicht uneingeschränkt, sondern setzen sich mit ihnen auseinander. Figuren werden für Identifikationen, aber auch für Abgrenzungen genutzt. Und manche Beispiele wie das vom Ekel Alfred verstoßen so offensichtlich gegen allgemeine Verhaltensregeln, dass sie selbst von jüngeren Kindern als Tabubruch entlarvt werden können.

Andererseits lernen Kinder erst mit zunehmendem Alter, moralische Urteile zu fällen und Vorbilder kritisch zu hinterfragen. Auch zentrale Medienkompetenzen entwickeln sich erst allmählich. Die Fähigkeit, Medieninhalte distanziert wahrzunehmen, kann daher nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Selbst wenn eine direkte Imitation nicht nahe liegt, können attraktive Medienvorbilder, die Kinder und Jugendliche auch emotional erreichen, Orientierungen für Verhaltensregeln und Wertvorstellungen vorgeben.

Relevant sind aus Jugendschutzsicht solche Modelle, die antisoziales oder selbstschädigendes Verhalten fördern, sowie Normalitätskonzepte und Stereotypen, die Kinder in ihrer Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit einschränken.

Ob eine Darstellung zur Nachahmung reizt und inwieweit Kinder und Jugendliche in der Lage sind, sich gegenüber schlechten Beispielen abzugrenzen, ist im Jugendschutz daher eine zentrale Frage. Im Wesentlichen geht es dabei um die Beschaffenheit des Modells, um Kontextfaktoren wie Realitätsnähe oder -ferne sowie um die anzunehmenden Kompetenzen und Lebenserfahrungen der jeweiligen Altersgruppe, die medialen Vorbildern entgegengesetzt werden können.

Kindern und Jugendlichen richtig schlechte Vorbilder vor Augen zu führen, kann aus Jugendschutzsicht zuweilen hilfreich sein.

So wird es etwa als entlastend eingeschätzt, dass die junge Erwachsene Nicole lallend zu Boden geht, aggressiv wird und so das Wiedersehen mit ihrem Freund vermasselt, denn die Bilder sprechen für sich: Nicole ist bei den gezeigten aggressiven und trunkenen Auftritten nicht vorbildhaft, sie benimmt sich daneben und wirkt auch so. Und weil 12-Jährige das erkennen können, wird der Ausstrahlung im Hauptabendprogramm zugestimmt (Snookii & Jwoww, USA 2012). Wenn Marcel K. dagegen auf Mallorca seinen Geburtstag feiert, mit anderen Jugendlichen Schnapsfläschen kippt oder Alkohol aus Eimern trinkt, dominieren starke, positive Bilder, die Alkoholkonsum mit Urlaubsspaß, Gemeinschaft und Feierfreude verbinden und den Eindruck prinzipieller Unbedenklichkeit vermitteln. Gerade für die 12- bis 16-Jährigen ist diese mit Bildern attraktiver junger Menschen unterlegte Botschaft potenziell vorbildhaft (Teenies auf Partyurlaub, Deutschland 2012, FSF 16).

Sofern jugendaffine Figuren, Stars oder Idole Verhaltensweisen vorführen, die gewaltbefürwortend oder desorientierend sind oder deren Nachahmung gefährlich sein könnte, ist besondere Aufmerksamkeit gefragt. Wenn Pop-Idol Justin Biber als Bruder eines Bombenlegers einen Gastauftritt in der Endlos-Serie CSI hat, ist etwa von Bedeutung, dass er zu der Mitwirkung an den Terroranschlägen nur verführt wurde, Skrupel empfindet und letztlich die entscheidenden Hinweise gibt, die zur Festsetzung des Täters führen (Episode 1101, Bombenalarm in Las Vegas; USA 2010 – FSF 12). Als die beliebte Jessica aus Berlin Tag & Nacht von den Liebhaberqualitäten des Barmanns Carlo schwärmt, ihn menschlich aber als „Arsch“ abtut, wird angenommen, dass sie ein alltagstaugliches Modell für die Trennung von Gefühl und Sex vorgibt, das jüngere Zuschauer verunsichern kann (FSF 12 – Hauptabendprogramm). Und bei der Bewertung der Clip-Show Ridiculousness (USA 2011) ist wesentlich, dass neben dem Skateboarder Rob Dyrdek immer wieder die aus Jackass bekannten Protagonisten um Steve-O auftreten: Sie  präsentieren Stürze, Unfälle und Selbstverletzungen, inszenieren Schmerz und Leid durchgängig als witzige Pointe und setzten aufgrund ihres Kultstatus einen starken Nachahmungsanreiz (FSF 16/18).

Der liegt bei Formaten mit Internetclips allerdings bereits in der Fernsehausstrahlung selbst, weil das bereits im Netz präsentierte Material  durch die Auswahl und Aufbereitung für die TV-Ausstrahlung aufgewertet wird. In Rude Tube (UK 2009) etwa finden sich nahezu ausschließlich selbstproduzierte, mit Handykamera aufgenommene Videos, die überdies miteinander in Konkurrenz gestellt werden: Wer überbietet mit seinem Clip die bereits gezeigten? Angesichts der in den Filmen präsentierten gefährlichen Aktionen – eine Furunkel-Selbstoperationen mit dem Küchenmesser, gewagte Sprünge aus großer Höhe, einem anderen die Hose anzünden – wird die Gefahr gesehen, dass sich Jugendliche animiert fühlen, derart brisante Situationen herbeizuführen, um mit ihrem Video zu punkten.

Vorbilder sind besonders in Bereichen wirksam, in denen es keine eigenen Erfahrungen gibt. Medienbilder werden mit der Realität abgeglichen und so relativiert. In vielen Fernsehsendungen ist fragwürdiges Verhalten nicht wirklich vorbildhaft, sondern wird im Medienszenario selbst distanziert betrachtet oder negativ bewertet. Gewalt, Kriminalität, Heimtücke zahlen sich überwiegend nicht aus und werden bestraft, entsprechende Figuren sind nicht sympathisch, genießen kein hohes Ansehen oder haben keinen Erfolg. Insofern ist nicht jedes abwegige Verhalten ein Fall für den Jugendschutz. Andererseits gewinnt gerade in der Adoleszenz der Wunsch an Bedeutung, sich gegen die Werte und Idole der Erwachsenenwelt abzugrenzen. An dieses pubertäre Rebellionsbedürfnis knüpfen Rapper wie Sido an, wenn sie sich, kommerziell recht erfolgreich, zu „schlechten Vorbildern“ stilisieren („Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt haben“!) – obwohl sie so böse Jungs längst nicht mehr sind. Aus Jugendschutzsicht sind einseitige Orientierungen problematisch, die Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung einschränken, die Gewalt oder Intoleranz propagieren und als Verhaltensmodell ernst genommen werden. Aus medienpädagogischer Sicht muss die Fähigkeit gefördert werden,  Inszenierungen von Fernsehformaten und kommerzielle Interessen zu durchschauen und die Autorität von ‚Beratern‘, ‚Juroren‘ oder selbsternannten Gangstas in Frage zu stellen.

Der vollständige Beitrag Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt haben – Vorbilder in Fernsehsendungen aus Jugendschutzsicht erscheint in der kommenden tv diskurs 3/2013 Vorbilder. Unsere Suche nach Idealen.

Über Claudia Mikat

Claudia Mikat ist seit 2019 Geschäftsführerin der FSF. Sie studierte Erziehungswissenschaften/Freizeit- und Medienpädagogik an der Universität Göttingen. Danach arbeitete sie als freiberufliche Medienpädagogin, als Dozentin und in der Erwachsenenbildung. Von 1994 bis 2001 leitete sie die Geschäftsstelle der FSF und wechselte dann in die Programmprüfung, die sie bis 2015 verantwortete.