Wilde Kerle

Kinder brauchen Ängste. Aber welche? Es gibt weiße Ängste und es gibt schwarze Ängste. Schwarze Ängste stehen im Dienste eines Herrschers, eines Pädagogen, eines Strafenden. Weiße Ängste stehen im Dienste einer Geschichte, einer Dramaturgie, im Dienste des Kindes.

Als der große Kinderbuchautor Maurice Sendak kürzlich starb, ging ein weißer Angstmacher von uns. Seine Kinderbücher waren selten heiter, selten eindimensional fürsorglich und aufmunternd. Er wusste, dass das Leben von Anfang an eine Angstbaustelle ist.

Vor einigen Tagen wachte ich nachts auf. Ich hatte von Zombies geträumt. Ich schaute durch das Fliegengitter in die fremd-unheimliche Urlaubslandschaft. Zikaden, ein Esel schnaubte, ein halber bleicher Mond. Hatte sich da nicht etwas zwischen den Olivenbäumen bewegt?

Ängste können uns wappnen gegen die Fallen der Taub- und Stummheit, gegen den oberflächlichen Blick, gegen Verhärtungen und Verpanzerungen. Unsere Ängste müssen jedoch geschmeidig bleiben, dialogisch erkundet, ausgewertet und nicht einfach unterdrückt werden. „Du brauchst keine Angst zu haben“, das kann mitunter ein törichter Satz sein, wenn man ihn zu einem Kind spricht. Jugendschützer sind wohl auch Alten- und Elternschützer. Wir, die Eltern, die Alten, wissen nicht, was die, die viel jünger sind als wir, mit den Geschichten machen werden, die sie erleben. Vielleicht haben wir nicht einfach nur Angst um sie, die Kinder, nein, vielleicht gefallen uns manche Geschichten nicht, weil wir Angst haben, dass sie die Kinder zu widerständig und widerwillig machen. Vielleicht haben wir Angst vor den wilden Kerlen, die in unseren Kindern stecken? Vielleicht haben wir Angst, dass unsere Kinder lernen, dass man nicht vor den Geschichten, sondern vor uns Angst haben muss, uns, den Alten, den Jugendschützern, den Fürsorgeberechtigten. Wo fängt Fürsorge an, wo beginnt der Käfig? Ich weiß es selten genug. Fürchterlich oder? Wer fährt schon allein über‘s Meer, um die wilden Kerle zu suchen, um mit ihnen zu schreien, zu trommeln und zu tanzen?

 

 

Über Torsten Körner

Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin. Während des Studiums erste journalistische Arbeiten. Nach Abschluss des Studiums Promotion über ein film- und kulturwissenschaftliches Thema. Seither freier Autor für verschiedene Medien. Diverse Veröffentlichungen, verschiedene Jury-Tätigkeiten. Als Fernsehkritiker meistens in Funk-Korrespondenz, epd medien und Der Tagesspiegel unterwegs. Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen.