Jugendmedienschutz im Ru.net?

Im November 2012 hat die russische Staats-Duma ein neues Gesetz erlassen, das die Einführung einer sogenannten „Schwarzen Liste“ vorsieht. Das Gesetzt erlaubt der russischen Medienaufsicht Raskomnadzor ohne Gerichtsbeschluss Webseiten auf den Index zu setzen, die Kinderpornografie, Anleitungen zum Suizid oder Drogenmissbrauch enthalten. Die Hostingprovider, wie z.B. YouTube, Facebook und Twitter, haften für die Inhalte. Die russische Medienaufsicht kann diese Plattformen komplett vom russischen Internetprovider blockieren lassen, sofern die Hostingprovider die beanstandeten Inhalte ihrer Nutzer nicht innerhalb einer Frist von drei Tagen löschen (Richter 2012). Eingebracht wurde das Gesetz von Abgeordneten aller Duma-Fraktionen. Besonders engagiert zeigte sich hier die Oppositionspartei „Gerechtes Russland“, die sich als sozialdemokratisch bezeichnet. Es ergänzt das Gesetz „Zum Schutz Minderjähriger vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“, mit dem in Russland seit 2012 erstmals eine umfassende Pflicht zur Altersklassifizierung und -kennzeichnung aller öffentlich zugänglichen Medien, also auch Onlinemedien, eingeführt wurde.

Verdächtige Seiten können von den Nutzern selbst bei der Raskomnadzor gemeldet werden

Hierfür hat die Raskomnadzor eine entsprechende Telefonhotline eingerichtet, ebenso wie ein Kontaktfeld auf der jüngst überarbeiteten Webseite. (Übrigens: Die neue Webseite der Raskomnadzor ist mit der Altersfreigabe „+12“ versehen; ob das wirklich dem Inhalt angemessen ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben.) Bis zu 300-mal täglich machen die Russinnen und Russen von der Meldemöglichkeit Gebrauch (ZEIT ONLINE 2012). Laut einer WCIOM-Umfrage befürworten 73 % der russischen Bevölkerung die Einführung solch einer Liste zum Schutze der Kinder, 9 % hingegen lehnen solch Schwarze Listen ab, weil sie das Recht auf freien Zugang zu Informationen schmälern würden und gleichzeitig auch „schuldlose“ Webseiten dabei gesperrt werden könnten. Genaue Angaben über den Umfang dieser Filterliste sind nicht bekannt, da sie öffentlich nicht zugänglich ist. Dies ist keine unübliche Praxis: Auch in Deutschland ist die Liste indizierter Telemedien für die Öffentlichkeit tabu (siehe hierzu jüngst das Urteil des VG Köln vom 04.07.2013 – 13 K 7107/11). Allerdings lässt sich auf einer Webseite der Raskomnadzor nachschauen, ob die gesuchte Webadresse auf der „Schwarzen Liste“ steht.

Häufig ist nicht einmal bekannt, warum Seiten gesperrt wurden und wer dies veranlasste

So versuchte die Zeitung Iswestija den Gründen für die Sperrung eines Artikels auf pobedish.ru nachzugehen, einer Webseite, die nach eigenen Angaben Suizidgefährdeten helfen will. In dem Artikel berichten Gerichtsmediziner und Polizeipsychologen über Selbstmordtechniken. Als die Iswestijia die Roskomnadzor um eine Stellungnahme zu ihrer Entscheidung bat, wurde sie an den Verbraucherschutz verwiesen, dieser wiederum schob die Zuständigkeit auf die Gesundheitsbehörde, und so endete die Recherche im Institutionendschungel (ZEIT ONLINE  2012). Bislang ist also die entsprechende Kompetenzverteilung nicht endgültig ausgemacht, oder zumindest für den Verbraucher nicht hinreichend zu erkennen. Neben der Medienaufsichtsbehörde kann, zumindest in Fällen bei denen es um „Anleitung zum Suizid“ geht, auch die Verbraucherschutzbehörde tätig werden und, sofern es sich um Drogenthematiken handelt, ist ein Mitwirken der Behörde für die Kontrolle des Drogenhandels auch nicht ausgeschlossen.

Der Kategorie „zum Selbstmord aufrufender“ Internetauftritte werden auch scherzhafte Internetauftritte zugeordnet

Diese Erfahrung machten auch die Betreiber der Webseite Lurkmore.to – eine Art Lexikon der Gegenwartskultur, das in jugendlichem Slang Themen satirisch behandelt. Ihr Eintrag zum Thema „Stoff“, der mit der in Russland beliebten Zeichentrickfigur Winnie Puh die Wirkung von Haschisch, Alkohol und Kokain illustrierte, veranlasste den Zensor zum Einschreiten. Ohne über einen Verstoß unterrichtet worden zu sein, wurde die Seite gesperrt, so zumindest einer der Besitzer von Lurkmore.to gegenüber Journalisten (Lenta 2012 oder Gorod 2012).

Heftiger Widerstand der russischen Internet-Community

Wikipedia blockierte aus Protest einen Tag lang alle russischsprachigen Inhalte. Mehrere Betreiber von Blogs und sozialen Netzwerken sprachen von Zensur. Ob es sich hier tatsächlich um eine weitere Machtkonsolidierung des Staates handelt, oder schlicht um technische Anfangsschwierigkeiten eines sich erstmals entwickelnden, unausgereiften Jugendmedienschutz in Russland, bleibt abzuwarten. Nicht jedoch ohne eine gewisse kritische Aufmerksamkeit.

Hier gibt es den Beitrag in voller Länge als PDF.

Der Beitrag von Mareike Müller ist in der aktuellen tv diskurs 66 (4/2013) Werbung. Aspekte kommerzieller Kommunikation mit dem Titel Alles im Sinne des Jugendschutzes? Russlands umstrittenes Kinderschutzgesetz erschienen.

Über Mareike Müller

Mareike Müller studierte Kulturanthropologie und Rechtswissenschaften (BA) sowie European Studies (MA) an der Georg-August Universität Göttingen und Europa Universität Viadrina. Nach verschiedenen Erfahrungen in der politischen und kulturellen Vermittlungsarbeit im In- und Ausland war sie von 2012 bis 2014 als studentische Mitarbeiterin bei der FSF redaktionell und im Projektmanagement tätig. Seit 2015 schreibt sie als freie Autorin für der FSF-Blog.