„All in the game yo, all in the game“ – Soziologische Kriminalunterhaltung in The Wire

Werde ich nach meiner Lieblingsserie gefragt, gebe ich eine ziemlich langweilige Antwort: Es ist The Wire, jene Seriengroßtat, über die vor Breaking Bad jeder sagte, man müsse sie gesehen haben – und die man meiner Meinung nach weiterhin gesehen haben muss.

Bei The Wire kamen der Vergleich zwischen Serien und Gesellschaftsromanen und die Behauptung auf, Serien böten das bessere, das innovativere Erzählen. Kolumnist Joe Klein äußerte sogar die seither viel zitierte Einschätzung, The Wire habe einen Literaturnobelpreis verdient. Tatsächlich funktioniert diese Serie wie ein Gesellschaftsroman. Ich brauchte ungefähr eine Folge – entspricht etwa 30 bis 50 Seiten –, um in die Handlung einzusteigen, die Figuren kennenzulernen und einordnen zu können. Spätestens mit der zweiten Folge war ich süchtig nach The Wire und konnte – der DVD-Box sei Dank – meiner Leidenschaft unabhängig von Ausstrahlungszeiten frönen. Abgesehen davon braucht The Wire aber keinen Vergleich mit dem nach kulturkonservativen Ansichten „wertigeren“ Roman, diese Serie kann sehr gut für sich alleine stehen.

The Wire erzählt von den Bemühungen einer Sondereinheit der Polizei in Baltimore, die Drogengang um Avon Barksdale auszuheben. Die gesamte erste Staffel fächert minutiös diesen Kriminalfall, die Charaktere und Milieus auf. Grundgerüst der Handlung ist dabei die Gegenüberstellung der Welten von Polizei und Gangstern, die sich durch Fangschaltungen und abgehörte Telefongespräche zusehends vermischen. In den folgenden Staffeln setzt sich der Drogenkrieg in anderen Milieus fort, die Handlung wird auf Hafenarbeiter und Gewerkschaften, die Politik, das Schulsystem und die Presse ausgeweitet. Am Ende der fünf Staffeln umfassenden Serie steht dann ein komplexes und vielschichtiges Bild der Stadt Baltimore, jener Stadt mit der vierthöchsten Mordrate der USA.

Die exemplarischen Fragestellungen und Probleme werden mit konkreten Figuren verknüpft: der zermürbende Kampf der Polizei gegen die Drogen – und die Ignoranz vieler Entscheider – spiegelt sich in Detective Jimmy McNulty und Lieutenant Cedric Daniels wider, die Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen zeigen die Lebensläufe von Omar Little und Dukie Weems. Die Tücken der Sucht lassen sich an Bubbles sehen, die Schwierigkeiten eines legalisierten Lebens und der Wunsch nach Einfluss zeigt Stringer Bell ebenso wie den Preis, den man für ein Leben als Krimineller zahlen muss. Jede Figur in The Wire ist komplex und ambivalent, sogar Hauptfigur McNulty ist alles andere als ein Sympathieträger.

Außerdem kreuzen sich die Wege der Charaktere immer mal wieder – so taucht eine Figur aus Staffel 2 schon einmal in wichtiger Funktion in Staffel 5 wieder auf. Bei all dem Exemplarischen und den Komplexitäten vergisst die Serie aber auch den bitterbösen Humor und die Emotionen nicht. Mittlerweile ist die Begehung eines Tatorts in der ersten Staffel ebenso legendär wie das überraschende Ableben einer beliebten Hauptfigur in der dritten Staffel. In der fünften Staffel fand ich mich plötzlich auf der Seite von Auftragsmörder Omar. Meine Lieblingsstaffel (das ist bei The Wire eine wichtige und viel diskutierte Frage) bleibt aber die vierte Staffel, die mir schlichtweg das Herz gebrochen hat. Hier zeigt die Serie eine Unerbitterlichkeit, die ich in keiner anderen Produktion gesehen habe.

The Wire überschreitet bewusst die Grenze zwischen Unterhaltung und soziologischer Analyse. Nach knapp 60 Stunden Serienzeit hat man daher nicht nur einem spannenden Kriminalfall beigewohnt, sondern zugleich tiefe Einblicke in das amerikanische Rechts- und Schulsystem, in den Kampf gegen die Drogen und die Presselandschaft erhalten. Sehr eindringlich wird beispielsweise in der dritten Staffel durch „Hamsterdam“ deutlich, welche Vorteile Duldungszonen für den Drogenhandel haben könnten – von einer Legalisierung mal ganz abgesehen – und dass diese Vorzüge ignoriert werden, um diffuse Ängste von Wählern zu beruhigen. Zugleich ist zu sehen, wie die Realität in Großstädten wie Baltimore oder auch Chicago aussieht, in Städten, die nicht wie Los Angeles oder San Francisco vom Zuzug technologischer Unternehmen profitierten. The Wire ist hier ungemein authentisch. Serienschöpfer David Simon hat jahrelang als Polizeireporter gearbeitet, sein Koautor Ed Burns war Polizist und Lehrer. Und zu guter Letzt darf man nicht übersehen, dass The Wire unglaublich zitierfähig ist – „shiiiiiiit“.

Über Sonja Hartl

Sonja Hartl studierte Deutsche Sprache und Literatur, Medienwissenschaft und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg und schreibt seither als freie Journalistin über Film, Fernsehen und Literatur. Außerdem betreibt sie das Blog Zeilenkino und ist Chefredakteurin von Polar Noir.