Das Internet vergisst nur manchmal. Vielleicht.

Dieser Blogeintrag zerstört sich in 10 Sekunden.

Das ist natürlich Blödsinn. Ich vermute, Sie brauchen länger zum Lesen, deshalb habe ich 120 Sekunden eingestellt, bis diese Zeilen im digitalen Nirwana entschwinden – Was interessiert mich mein Geschreibs von gestern?!

So ungefähr funktioniert Snapchat, eine Software zum Austausch von schnellverderblichen Bildern auf Smartphones; in den letzten Monaten d e r Überraschungserfolg bei US-Teenagern, aber inzwischen auch ein Renner in verschiedenen europäischen Ländern.

Nur eine Frage der Zeit, das Snapchat auch deutsche Kinder und Jugendliche anfixt. Snapchat erlaubt dem Nutzer in Fotos (und mittlerweile auch Videos), die er versendet, einen Selbstzerstörungsmechanismus einzubauen. Der Absender bestimmt die Zeitspanne – minimal eine Sekunde, maximal 10 Sekunden – in der der Empfänger das Bild oder Video anschauen kann. Dann ist es weg, entschwunden, wie ein (böser) Geist – so das Versprechen auch der Nachahmerprodukte, die inzwischen existieren, Facebooks „Poke“- Software zum Beispiel.

Was man damit anstellen kann? Nun, in den USA steht Snapchat im Ruf, vor allem dem sogenannten „Sexting“ zu dienen, dem Austausch an- bzw. auszüglicher Fotos unter Teenagern. Auch harmlose, unvorteilhafte Schnappschüsse würden ausgetauscht, heißt es. Bilder jedenfalls, die man nicht auf die Facebook-Seite stellen würde.

Eine Revolution im Geiste des fröhlichen Gedächtnisschwundes? Hieß es nicht noch vor kurzem – angesichts unserer eigenen Freigiebigkeit und der Datensammelwut diverser Portale – mahnend: „Das Internet vergisst nie“?

Die Software ist der technologische Versuch, diesem grausam-tückischen Diktum zu entfliehen. „Vergänglichkeit hat einen Nutzen“ so werben die jungen Snapchat-Erfinder für ihre Gratis- App.

Das erinnert die Nutzer an die gute alte, analoge Welt, als der Moment noch ein Augenblick war und kein beliebig reproduzierbares digitales Event. Und die Software (selbst) suggeriert einen Spagat: Einerseits, uns der Welt noch ungehemmter, noch offenherziger zeigen zu können. Das aber – andererseits – ungestraft, in dem wir die Handlungshoheit über unsere Daten behalten. Ohne Angst, dass uns Jugend- und andere Sünden irgendwann einholen, wenn nur jemand beginnt, im Datenberg zu wühlen….

Angeregt zur Programmierung von Snapchat wurden die Erfinder übrigens, so wird berichtet, durch einen doch zumindest merkwürdigen Black Out. Ein US-Kongress-Abgeordneter hatte vor einiger Zeit Fotos seines vermeintlich besten Stückes getwittert. Ein Versehen – auch, wenn man sich das irgendwie schlecht vorstellen kann. Vergeblich hatte der reumütige Politiker jedenfalls versucht, die einmal verbreiteten Peinlichkeiten wieder einzufangen. Allein: Der Geist wollte nicht wieder in die Flasche. Daher die Idee der Selbstzerstörung.

Eine schöne Idee, ein letztlich untauglicher Versuch, denn – wie eigentlich immer bei neuen Technologien – ist es nur eine Frage der Zeit, bis deren Prinzip unterlaufen wird. Bis einer ein Gegengift findet. Bereits Snapchat selbst bietet die Möglichkeit eines Screenshots, also: den Bildschirm mit dem Bild drauf in der zur Verfügung stehende Zeitspanne systemintern abzufotografieren. Zwar erhält der Absender darüber eine Mitteilung, verhindern kann er es nicht. Doch inzwischen gibt es auch Fremd-Programme, die das „Abgreifen“ der Fotos ohne Wissen der Absender ermöglichen und Webseiten, die diese Bilder publizieren, „Snap Chat Leaked“, also.

Es besteht folglich kein Grund, von neuer virtueller Vergesslichkeit zu schwärmen.

Auch Snapchat – Bilder landen nicht im Nirwana, sondern – davon ist im Zweifelsfall auszugehen – auf dem Datenberg. Und zur Not kann man sicher auch noch mal bei der us-amerikanischen Sicherheitsbehörde NSA („Yes, we scan“.) nachfragen.

Dieser Blogeintrag zerstört sich in 10 Sekunden.

Über Sven Hecker

Sven Hecker lebt und schwebt als freier Journalist in Berlin. Um nicht völlig abzuheben, hat er sich Schwerpunkte gesetzt: Alltags- und Zeitgeschichte, Politik und Medien. Macht sich aber auch darüber hinaus Gedanken über die Welt, und darüber, ob sie noch zu retten ist und wenn ja, durch wen. Schreibt das alles auf, fürs Radio, gelegentlich auch für Zeitschriften und Fernsehen.