Bei vier Filmen am Tag liegt mein derzeitiger Berlinale-Schnitt. Das sind angesichts der momentanen Vorliebe der Regisseure für Zwei-Stunden-Filme acht Stunden am Tag, die ich im Kino verbringe. Hinzu kommen Wartezeiten vor den Sälen, Gehzeiten zwischen den Kinos und natürlich die Zeit, die man mit Interviews und dem Schreiben von Filmkritiken verbringt. Berlinale-Tage sind also lang – und ab dem fünften Tag wird die Müdigkeit immer größer. Dann hat man bereits einige schlechte und viele mittelmäßige Filme durchgesessen, ist mit der Arbeit im Verzug und der Schlaf wird auch immer weniger. Aber das alles rückt in dem Moment in den Hintergrund, in dem man einen Film sieht, der einen fast aus dem Kinosessel reißt.
In einer einzigen Einstellung ist Sebastian Schippers Victoria gedreht, gute zweieinhalb Stunden folgt die Kamera dabei Victoria (Laia Costa), einer jungen Spanierin, die seit kurzem in Berlin lebt.
In den ersten Bildern ist sie in einem Club zu sehen, sie trinkt noch einen Schnaps und will dann nach Hause gehen. Schließlich ist es schon nach vier. Dann trifft sie vor dem Club zufällig auf Sonne (Frederick Lau) und seine Freunde Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) und lässt sich von den Jungs überzeugen, noch ein Bier zu trinken und auf ein Dach zu steigen. Danach lässt sich Victoria von Sonne zu dem Café bringen, in dem sie arbeitet. Dort unterhalten und küssen sie sich. Plötzlich kehren Sonnes Freunde wieder und unversehens findet sich Victoria inmitten eines Banküberfalls.
Victoria ist ein Film, auf den man sich einlassen muss. Sehr früh kamen bei mir erste Zweifel auf – sie lässt sich sehr bereitwillig auf das Geplänkel der Jungs ein – und im weiteren Verlauf kommen wieder Stellen, an denen ich kurz hätte zweifeln können: Wenn sie sich bereit erklärt, einen Wagen zu fahren, bei dem Banküberfall mitmacht oder später auf der Flucht riskante Entscheidungen trifft.
Aber zum einen gibt es innerhalb des Films Erklärungen für ihre Handlungen, so hat Victoria bis vor kurzem alles einer möglichen Karriere als Konzertpianistin untergeordnet. Sie kennt Einsamkeit und Selbstdisziplin, eine langjährige, enge Freundschaft wie die von Sonne, Boxer, Blinker und Fuß ist ihr hingegen fremd. Aber sie sehnt sich nach diesem Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt, außerdem spielen später Adrenalin und Selbsterhaltungstrieb eine Rolle.
Zum anderen habe ich ganz am Anfang in dem Moment, in dem sie mit den Jungs noch ein Bier trinken geht, entschieden, dass ich mich auf die Geschichte einlasse und mich von ihr tragen lasse. Dadurch hat Victoria eine bemerkenswerte Unmittelbarkeit bekommen, die mich fast körperlich in das Geschehen mitgerissen hat. Dazu hat die Inszenierung in einer einzigen Einstellung in Echtzeit geführt – das bedeutet, dass alleine Kameramann Sturla Brandth Grøvlen das Tempo und den Rhythmus mit seinen Bildern bestimmt. Es gibt hier keinen Schnitt, keine zweite Chance für eine verpatzte Szene. Darüber hinaus sind alle Schauspieler sehr überzeugend. Sie spielen innerhalb von zweieinhalb Stunden die verschiedensten Gefühle, dabei erscheinen sie stets authentisch und niemals bemüht. Hauptdarstellerin Laia Costa ist daher eine ernsthafte Kandidatin für den Darstellerpreis – und den Film rechne ich auch zu den Anwärtern. Ein Höhepunkt zur Halbzeit der Berlinale ist er auf jeden Fall – und voraussichtlich im Juni wird er regulär in die Kinos kommen.