Europäische Qualitätsserie als Welturaufführungen auf der Berlinale 2019
Die Seriensektion der diesjährigen Berlinale eröffnet mit einem gelungenen Coup. Die großartig besetzte und originelle Thrillerserie Hanna mischt einen Coming of Age Plot in das Agenten-Sujet und etabliert das übergreifende Thema dieses Jahres.
Die Welt der Gegenwart als gewalttätiger Ort, an dem sich die Bewohner den Weg durch das Dickicht der Realität bahnen müssen. In Hanna ist das wörtlich zu nehmen, denn das Mädchen mit diesem Namen wurde von ihrem Vater, einem ehemaligen Geheimdienstagenten, fernab der Menschen und der Zivilisation im Wald aufgezogen. Der Vater hat wegen der immer noch akuten Bedrohung die jugendliche Tochter zu einer wehrhaften Kampfmaschine ausgebildet. Und doch ist Hanna ein ganz normaler Teenager, der sich nach Freiheit und Liebe sehnt.
So lässt der Clash mit der Wirklichkeit nicht lange auf sich warten und Hanna begibt sich auf eine gefährliche und abenteuerliche Reise in die normale Welt. Dabei weiß sie noch nicht einmal, was eine Textmessage ist. Der Zuschauer erlebt die Welt aus den Augen der Jugendlichen mit ihren Irrungen, Hanna liefert außerdem einen spannenden Thriller-Plot mit überraschenden Wendungen und spiegelt unsere Zeit durch die Augen einer Außenseiterin.
Die dänische Serie Bedrag – Follow the Money dringt in ein anderes undurchdringliches Gestrüpp ein: das der Geldwäsche. Es ist bereits die 3. Staffel der dänischen Serie, hier aber als Spin Off. Im Mittelpunkt steht ein traumatisierter Polizist, der sich an ebenso vielen äußeren wie inneren Widerständen abarbeiten muss. Auch der eiskalte, aalglatte Kriminelle, der die Geldgeschäfte lenkt, knallt mit der Wirklichkeit in Form einer unverhofften Vaterschaft zusammen, und sieht sich mit seiner weichen Seite konfrontiert. Die Dritte im Bunde ist eine brave Bankangestellte, die immer alle Anforderungen penibel erfüllt hat, gegen ihre Erwartung nicht befördert wird, was nun ihre kriminelle Energie beflügelt – drei Personen aus unterschiedlichen Welten, die mehr gemeinsam haben, als es scheint. Sie alle kämpfen sich einsam den Weg frei in einer modernen Welt, in der die Beziehungen disperat sind. Gleichzeitig wird das kriminelle Milieu detailgenau nachgezeichnet, dem Drehbuch liegt eine lange Recherchephase zugrunde. Autor Jeppe Gjervig Gram hat zuvor die Erfolgsserie Borgen auf den Weg gebracht.
Bei der dritten Welturaufführung einer Qualitätsserie, handelt es sich um das „schwarze Schaf“ der Reihe. Die österreichische Produktion M – Eine Stadt sucht einen Mörder, verlegt die Menschenjagd auf einen pädophilen Mörder in die Gegenwart. Diese sieht jedoch wie ein verschneites Märchenland aus dem Bilderbuch aus und ist bevölkert von einer ganzen Armada klischeebeladener Figuren: Ein pfeifender Horrorclown, ein ernstes kleines Mädchen mit roter Pudelmütze, eine fiese Puffmutter als Unterweltschefin, eine Brote futternde lakonische Polizistin und undurchsichtige Flüchtlinge, nicht zu vergessen den selbstverliebt soziopathischen Bundeskanzler. Vielleicht ist das Ganze als Parodie gemeint, vielleicht als modernes Märchen mit gesellschaftskritischem Hintergrund, doch bei all den beschworenen Bildmetaphern fehlt es frappant an wirklich eindringlichen Szenen, Subtilität oder gar Spannung. Ist das Kunst oder kann das weg? Diese Frage muss der Betrachter selbst beantworten.
Ganz anders gelagert ist der deutsche Beitrag 8 Tage, der unsere Gegenwart in der Frage spiegelt: Was wäre, wenn die Welt in acht Tagen untergeht?
Durch einen Meteoriten-Einschlag droht West-Europa die totale Zerstörung und so befinden sich plötzlich die westlichen Wohlstands-Europäer auf der Flucht. In einigen, geschickt miteinander verflochtenen Erzählsträngen, dekliniert das Drehbuch alle möglichen Optionen einer menschlichen Reaktion auf den Weltuntergang durch. Da ist die Familie auf der Flucht, die an kriminelle Schleuser gerät, der krebskranke Jugendliche, der den Weltuntergang feiernd begrüßen will und der verbitterte Schwiegervater, der neben streunenden Hunden und einer betenden Christensekte als Einziger noch in der verlassenen Siedlung wohnt. Rasante Fluchtsequenzen wechseln mit starken Dialogpassagen und wilden Partyorgien. Die Geschichte ist dicht und glaubwürdig, auch gibt es einige wirklich gute Bilder für den Ausnahmezustand, wie ein verwahrloster Parkplatz vor Supermarktbauten, auf dem die Spuren von Plünderungen noch sichtbar sind: Unsere Wohlstandgesellschaft am selbstgeschaffenen Abgrund.
In der französischen Miniserie Il était une seconde fois wird es radikal persönlich. Es geht um eine unglückliche Liebesgeschichte, vor allem aber um die Sehnsucht danach, alles richtig zu machen. Eine Zeitreise soll dabei helfen, die Uhr zurück zu drehen, ein Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Der Protagonist verbringt sein Leben eher antriebslos und hält sich mit Jobs über Wasser, aber als er durch eine geheimnisvolle Box in die Vergangenheit reisen kann, tut er alles, um seine ehemalige Geliebte zurück zu gewinnen. Er wird zum Wanderer zwischen den Welten, und auch dieser Protagonist strahlt die Verlorenheit der diesjährigen Seriensektions-Helden aus. Seine Hartnäckigkeit, das Schicksal in die eigene Hand nehmen zu wollen, ist das Versagen mit eingeschrieben; auch das ein melancholischer Blick auf unserer Zeit.
In Israel ist die Realität eine weitaus Härtere: Im Beitrag False Flag 2 sterben bei einem Anschlag auf der feierlichen Eröffnung einer Ölpipeline zwischen Israel und der Türkei gleich mehrere Honoratioren der Politik und drei Personen verschwinden auf mysteriöse Weise. Um diese drei wird es in der mitreißenden Serie gehen, die sich auf die Tradition des Polit- und Verschwörungsthrillers besinnt. Da ist die erfolgreich arbeitende Mutter einer wohlhabenden israelischen Durchschnittsfamilie, die lesbische Tochter von ultraorthodoxen Eltern sowie ein arabisch stämmiger Israeli, der gerade einen Heiratsantrag bekommt. Sie alle haben ein Doppelleben geführt, zumindest ist das die Fährte, die in den ersten beiden Episoden gelegt wird. Und dieser Pfad führt mitten hinein in ein rätselhaftes Dickicht voller Verdächtigungen, Sabotage, Desinformation, verdeckter Operationen und Gewalt. Wie gut kennst du die Menschen, die du liebst? Diese Frage stellt sich für die Angehörigen der verschwundenen Terrorverdächtigen und ist zugleich der rote Faden der Serie. Der paranoide israelische Staat reagiert mit der ganzen Wucht seines Geheimdienst- und Überwachungsapparates, in dem Bürgerrechte mit einem Fingerschnipsen ausgeschaltet werden können. Es handelt sich bereits um die 2. Staffel, die wiederum eine abgeschlossene Geschichte erzählt.
Beendet wird die Seriensektion mit dem schwedischen Beitrag Störst av allt – Quicksand, der auf dem verstörenden Roman von Malin Persson Giolito beruht.
Traumatische Bilder eines Schulamoklaufs bilden den drastischen Auftakt der ersten Folge. Nur eine Schülerin überlebt im Klassenzimmer, es ist die Protagonistin Maja, und tatsächlich wird es keine einzige Szene geben, die nicht aus ihrer Perspektive erzählt wird. Maja wird festgenommen, die erschütterten Eltern eilen herbei, bezahlen den besten Anwalt und doch ist die Beweislage erdrückend: Maja hat mit ihrem Freund Sebastian den Amoklauf an ihrer Highschool in einem reichen Vorort von Stockholm durchgeführt. Die Serie entfächert anhand der Verhöre und Erinnerungen Majas die Geschichte einer Amour fou, die aber auch eine gesellschaftliche Fallhöhe bereithält. Der extrem reiche Vater Sebastians erweist sich als emotionsloser Widerling, und auch Maja scheinbar heiles Elternhaus ist ein Trugschluss. Die Serie wirft einen sezierenden Blick auf die schwedische Gesellschaft, auf soziale Kälte, die aus Überfluss, Orientierungslosigkeit und Lieblosigkeit generiert wird. Der Abschlussbeitrag der diesjährigen Seriensektion schließt somit thematisch den Bogen auf eindrucksvolle und beklemmende Art.