Im Zweifel für das Unbekannte

Ein Filmfestival wie die Berlinale ist ja immer eine sehr eigene, zum Teil geplante, zum Teil auch zufällige Zusammenstellung von Filmen – und wenn man die Beiträge einer Programmsektion relativ rasch hintereinander sieht, ergeben sich immer ganz eigene Überschneidungen und Ähnlichkeiten.

Das ist natürlich eher ein Phänomen für Filmkritiker und Filmkritikerinnen und sehr engagierte Besucher, die nahezu alle Filme zum Beispiel der Berlinale Generation ansehen. Für uns wird so sichtbar, in wie vielen Filmen Kamele eine Rolle spielen, wie oft hier Kinder auf Reisen sind. Allerdings ist das Roadmovie wohl nicht zufällig eine beliebte Form für einen Kinderfilm, denn die Reise (oft, nicht immer ohne Eltern und feste erwachsene Begleiter und Begleiterinnen) steht schließlich auch beim ¨erwachsenen¨ Roadmovie immer für Erfahrungen, Veränderungen, die äußere entspricht der inneren Bewegung. Auf der anderen Seite stehen die vielen Filme in diesem Jahr, in denen in der einen oder anderen Form der Buddhismus eine Rolle spielt – da steht dann oft genug einer Welt in Bewegung sehr viel Ruhe gegenüber: In der Form des Films wie in Handeln und Denken der Protagonisten.

Wer nur für ein oder zwei Filme mit seinen Kindern die Kinder- und Jugendfilmsektion der Berlinale besucht, interessiert sich womöglich weniger für solche großen Linien und mehr für konkrete Vorschläge, welche Filme sich denn lohnen könnten? Geschmäcker und Interessen sind natürlich verschieden, und so möchte ich vor allem sagen: Alle Filme, die ich vorab habe sehen können, sind im Zweifel interessanter und besser als der Großteil dessen, was an Kinderfilmen ins deutsche Kino kommt. Es ist also nichts verkehrt daran, sich das Programmheft der Kinder- (Kplus) oder Jugendfilme (14plus) vorzunehmen und strikt nach Interessen und Altersempfehlung zu entscheiden. Im Zweifel für das Unbekannte: So trifft man auf Filme, die man sonst nie sehen würde. Gerade für Kinder ist das allein oft eine wunderbare Erfahrung.

Aber Empfehlungen dürfen sein. Für Kinder ab fünf Jahren gibt es – neben dem wie stets wahrscheinlich exzellenten Kurzfilmprogramm – sowieso nur einen Film im Programm: Mini und die Fahrradmücken.

Der dänische Animationsfilm über einen kleinen Käfer, die Fahrradmücken und ihren kleinen Flohzirkus ist weit vom üblichen Computer-Animationsstandard entfernt und erlaubt sich große Freiheiten in Anatomie und Farbgebung bei seinen Protagonisten. Dafür gibt es ein sehr kindgerechtes Abenteuer mit ein paar bösen Gegnern, die aber so böse gar nicht sind, und vielen Albernheiten; ganz nebenher werden faule Herrscher und ungerechte Gerichtsverfahren abgehakt, und am Ende saugt ein Käferchen sich am Hinterteil einer Blattlaus satt – Sie wissen schon, da wo die Ameisen sie auch im wirklichen Leben melken. Das klingt alles recht bizarr, ist es auch – aber schön.

Eine zweite Empfehlung, ab sieben Jahren etwa: Papierflieger.
Ein kleiner Junge aus einem australischen Dorf qualifiziert sich eher aus Versehen für die regionale Ausscheidung im Papierfliegerweitwurf – und fährt am Ende nach Tokio zur Weltmeisterschaft. Trotz seiner eigentlichen Themen (Tod der Mutter, dadurch emotional abwesender Vater) eher leichtfüßige Unterhaltung mit ein paar etwas zu dick aufgetragenen Lebensweisheiten.

Ebenfalls in der Sektion Kplus würde ich noch die (das musste kommen) Roadmovies Das himmlische Kamel (über ein entlaufenes Kamel in der mongolischen Steppe; ab 7 Jahren)

und Regenbogen (über zwei Geschwister auf einer Reise durch Rajasthan; ab 9) empfehlen; weil aber beide auf der Berlinale als Weltpremieren laufen, darf ich leider vorab mehr noch nicht zu den Filmen sagen.

Auch noch sehenswert: Antboy: Rache der Red Fury (ab 10 Jahren). Die Fortsetzung des Superheldenkinderfilms kommt aber im Sommer auch regulär ins Kino, da kann man also entspannt abwarten.

Und dann die Jugendfilme: Es ist wohl nicht überraschend, dass der Großteil dieser Filme vom Erwachsenwerden erzählt, und dass es in nicht eben wenigen Filmen um erste sexuelle Erfahrungen geht.

Deshalb bieten vielleicht The Diary of a Teenage Girl aus den USA und der italienische Short Skin ein hübsches Kontrastprogramm. Diary erzählt von der 15-jährigen Minnie, die im San Francisco der 1970er-Jahre eine Affäre mit dem Freund ihrer Mutter beginnt. Der Film basiert auf der teilweise autobiographischen Graphic Novel von Phoebe Gloeckner und ist eine Reise durch den Kopf und die Gedanken seiner Protagonistin, die zugleich erzählt, wie die junge Frau beginnt, sich als Künstlerin, als Zeichnerin zu verstehen: Entsprechend vermischen sich die Realbilder des Films immer wieder dramatisch und elegant zugleich mit Minnies Zeichnungen.

Short Skin ist da stilistisch konservativer. Edoardo ist heimlich sehr in Bianca verliebt, die er schon ewig kennt; gerade hat sie sich von ihrem ersten Studienfreund getrennt und will nun in Paris weiter studieren; so lange ist sie noch einmal zu ihrer Großmutter, im Haus direkt gegenüber, eingezogen. Mit seinem besten Freund spricht Edoardo auch viel über Sex; aber weder ihm noch irgendjemandem sonst erzählt er von dem Problem, dass seine Vorhaut verengt ist – und vor einer Operation hat er zu viel Angst. Ein bittersüßer kleiner Film, zwischendrin sehr komisch, nie verzweifelt – und natürlich mit einem Happy End.

Außerdem noch sehenswert: wieder zwei Weltpremieren. Coming of Age ist ein sehr ruhiger Dokumentarfilm über das Leben und die Ziele von vier Jugendlichen im Hochland von Lesotho.

Der Film ist den Besuch allein schon deshalb wert, weil man als Durchschnittsmensch hierzulande ja keine Ahnung hat, wie es im Hochland von Lesotho eigentlich so aussieht – oder dass es das überhaupt gibt.

Außerdem: Flocken, über ein Mädchen im dörflichen Schweden, das einen Mitschüler beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Nichts für schwache Nerven.

Und damit sei es der Empfehlungen genug von mir, nun lasst die Leinwand sprechen! Viel Spaß auf der Berlinale!

Über Rochus Wolff

Rochus Wolff ist Kulturjournalist, Autor und Filmkritiker. Er lebt mit seiner Familie in Fulda und schreibt zum Thema Kinderfilm seit Anfang 2013 einen eigenen Blog unter kinderfilmblog.de.