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„Gallus meus mortuus est! Er kann nicht mehr kräh’n, kokodi, kokoda.“ An einem grauen Novembermorgen habe ich durch einen in dieser Hinsicht abgehärteten Landsmann meinen Hahn Jan-Peter schlachten lassen. Der Gockel war ein prächtiges Exemplar mit bunt schillernden Federn, beeindruckendem Schnabel, stolzem Kamm und Respekt einflößendem Doppelsporn.
Er war ausgesprochen kräftig und darüber hinaus geradezu omnipotent. So schnell konnten bei den Hühnern die Federn gar nicht nachwachsen, wie er sie ihnen bei seinen Kopulationsaktivitäten ausrupfte. Auch ansonsten kümmerte er sich geradezu aufopferungsvoll um seine Damen. Niemand durfte seinem Völkchen zu nahe kommen. Selbst ich sollte zwar regelmäßig Körner streuen, doch unmittelbar danach ging er zum Angriff über und jagte mich mit stürmischen Attacken aus dem Gehege. Das wurde ihm nun zum Verhängnis. Ich war mit einer vielleicht alternativ möglichen Erziehung überfordert – und eine Hühnerschule, die das stellvertretend hätte erledigen können, gibt es leider nicht.
Sicher sitzt Jan-Peter inzwischen schon längst im Himmel der Genies und zweifelt dort mit Hermann Hesse und dessen Wunderknaben Hans Giebenrath aus der Erzählung Unterm Rad an meiner allen dreien höchst abwegig erscheinenden Idee, dass eine Schule es hätte besser richten können. Jedenfalls nicht eine kaiserliche Untertanenschule der Marke Kloster Maulbronn. Vielleicht hat es sich Jan-Peter aber auch mit Jurek Becker auf einer Couch bequem gemacht, wo sie über meine Idee, ihn einer Schule anzuvertrauen, den Kopf schütteln. Beide schaudert es angesichts der in den Schlaflosen Tagen von Becker beschriebenen DDR-Schule, wo Lehrer Karl Simrock plötzlich begreift, dass er immer nur das, was höheren Ortes entschieden worden war, an die Kinder weitergegeben hat. Kaum jemand traute sich, Anweisungen zu hinterfragen, und was dadurch so geordnet erschien, bedeutete letztendlich nur eine andere Art der Untertanengärtnerei. Ein solcher Preis für die mögliche Lebensverlängerung wäre einem Charakter wie Jan-Peter bestimmt zu hoch. So ist anzunehmen, dass ein Typ wie er, wenn er überhaupt über strukturelle Erziehung nachdenkt, am Tisch der Optimisten sitzt und sich dort von einem charismatischen Menschen wie Adolf Reichwein über die Möglichkeiten einer dem Individuum zugewandten Schule erzählen lässt. Bei dieser Vorstellung werde ich nervös, denn so steht geradezu zwangsläufig die für mich peinliche Frage im Raum, warum ich in meiner Ohnmacht keine bessere Idee hatte, als für meinen Hahn den Metzger zu holen. Den Pädagogen Reichwein führte das Bildungsideal, eine Nation von Selbstdenkern erziehen zu wollen, in den 1940er-Jahren in den Kreisauer Kreis, der ihn nach dem Sturz der Hitlerdiktatur zum kommissarischen Kultusminister ernennen wollte. Doch wie bekannt, verfehlte Graf von Stauffenbergs Bombe ihre erhoffte Wirkung und Reichwein verlor gemeinsam mit anderen Kreisauern sein Leben im Gefängnis Plötzensee.
Bekäme nun Jan-Peter eine zweite Chance für ein Erdenleben, weil er sich zum Besuch einer durch Reichwein geprägten Schule entschlossen hat, so hätte er es allerdings ziemlich schwer, entsprechende Spuren zu finden. Der Name des Bildungsvisionärs ist so gut wie vergessen und von dessen Ideen erfährt der motivierte Hahn am ehesten noch etwas auf dem Sonnendeck eines Kreuzfahrtschiffes. Dort könnte er pensionierte Studienräte zwischen Pool und Massagebank schwadronieren hören, wie sie einst als junge Referendare bemüht waren, Selbstdenker zu erziehen. Allerdings würde Jan-Peter sicher etwas verunsichert staunen, wenn die älteren Damen und Herren dabei unter Gelächter von Versuchen erzählen, mit Schülern der zehnten Klasse Shakespeares
Sommernachtstraum mit gesellschaftskritischem Impetus auf die Bühne der Schulaula zu bringen. Er würde sich auch wundern, was Skikurse in den österreichischen Alpen oder Exkursionen zu Orten der griechischen Antike mit schulischer Grundbildung zu tun hatten. Erfreuen würden ihn bestimmt Berichte von selbstbewussten Schülerzeitungen, die mit ihren Artikeln Schulbehörden ins Schwitzen bringen konnten. Gefallen würden ihm auch Erinnerungen an Schulgärten, Fotokurse und Big Bands, in denen Schüler und Lehrer gemeinsam zu Schulfesten aufspielten. So fördert man also Selbstdenker, denkt Jan- Peter skeptisch. Doch braucht man dafür eine Schule? Vielleicht ein bisschen, denn was Jan-Peter bei einer ersten flüchtigen Begegnung moderner Lehranstalten wahrnimmt, stimmt ihn auf andere Art nachdenklich. Da raunt es latent von irgendwelchen Notendurchschnitten, rhetorische Begabung scheint sich zuerst bei diversen Formen von Bewerbungstraining für künftige Berufe beweisen zu müssen – und ganz zentral ist offenbar die Frage, ob Chinesisch oder Japanisch als dritte Fremdsprache mit größerer Wahrscheinlichkeit karriereförderlich wäre. Alles wirkt ziemlich angespannt.
Umso überraschter wäre Jan-Peter, wenn er komplementär dazu Schule erleben kann, wo der Fröhlichkeit kaum Grenzen gesetzt scheinen. Er hört Sätze wie: „Ey, red ma’ höflich, du Opfer“, „Gib zwei Euro. Ich muss Guthaben kaufen“ oder: „Halt Fresse und gib mir den Nagellack.“ Jan-Peter ist in ein Kino geraten
und erlebt Schule im Film Fack ju Göhte. Es fällt ihm schwer zu glauben, dass er ausge- rechnet hier Selbstdenker finden sollte, die ihm im Himmel als Ideal erschienen waren. Dann wird er Gast eines Filmgesprächs und er staunt, wie die, die gerade bei den Merkwürdigkeiten auf der Leinwand so herzhaft gelacht
haben, ausgesprochen reflektiert und komplex über das Geschehen diskutieren. Nun ist der Hahn doch etwas durcheinander. Hermann Hesse und Jurek Becker haben angesichts durchlebter Formatierungsversuche dennoch schöne und kluge Bücher geschrieben. Und später sind trotz vieler Schulstunden, die mit szenischem Spiel und Skiausflügen verbracht worden waren, ausreichend Programmierer herangewachsen, die den Anforderungen der digitalen Revolution gerecht werden. Und obwohl Bildungsvergleiche zuerst bewerten, ob ein Huhn gelernt hat, möglichst fehlerfrei wie ein Truthahn zu kollern, gelingen nachdenkliche und sensible Diskurse über Dinge des Alltags. Meinen Gedanken, Jan-Peter in eine Schule zu schicken, würde der Hahn nach seinen Erlebnissen sicher nicht mehr ganz absurd finden. Er würde aber auch wissen, dass das allein noch keine Garantie wäre, nicht frühzeitig als Sonntagsbraten zu enden. Die Schule kann Anregungen schaffen, sie öffnet Fenster und sie wirkt als Reibefläche. Ob und was jemand damit anfangen kann, das hängt schon von ihm selbst und von den sozialen Kontexten, in denen er sich ansonsten bewegt, ab. Damit umzugehen, ist sicher anstrengend, aber einfacher geht es nicht, auch wenn die jeweils andere Seite hier und da dazu neigt, sich das für sich selbst entsprechend hinzubiegen. Ich habe mir vorgenommen, bei Jan-Peters Nachfolger etwas geduldiger auf dessen Charakter zu achten, und vielleicht ist er mir gegenüber dann auch toleranter, ohne gleich ein langweiliger Anpasser zu werden.
Über Klaus-Dieter Felsmann
Studium der Germanistik und Geschichte. Klaus-Dieter Felsmann ist freier Publizist, Medienberater und Moderator sowie Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).