Grusel, Gewalt, Gefühl

Moralische Diskurse in The Walking Dead

Die durch den Horrorfilm inspirierte Genre-Serie The Walking Dead hat ein Millionenpublikum und eine riesige Fangemeinde. Vordergründig präsentiert sie jede Menge Schockeffekte, weshalb die gesamte bisherige Serie in Deutschland erst ab 18 freigegeben ist. Doch hinter krassen Horror- und Gewaltszenarien werden moralische Konflikte und emotionale Grenzsituationen verhandelt, die erzählerisch sehr viel tiefer und gründlicher ausgelotet werden, als dies in den Kino-Vorbildern möglich und beabsichtigt war. Die vorliegende beschreibende Analyse der ersten Episoden soll diese moralischen Diskurse im vierten Teil der Artikelreihe zu Gewalt und Moral in TV-Serien exemplarisch aufzeigen.

The Walking Dead, Staffel 1 © AMC Network Entertainment LLC
The Walking Dead, Staffel 1 © AMC Network Entertainment LLC

The Walking Dead: durch Kino-Vorbilder inspiriert

Mit seinem Kinofilm Night oft the Living Dead schuf Regisseur George A. Romero 1968 einen Horrorklassiker und begründete das Subgenre des Zombiefilms. Die Grundgeschichte der US-Serie The Walking Dead steht in der Tradition dieses Zombiefilm-Genres. Allerdings liegt die Begründung für die Entstehung von massenhaft Untoten in den USA hier nicht in haitianischen Totenmythen, sondern in einer zunächst nicht näher definierten Katastrophe, durch die die US-Städte verwaist und nun von einer riesigen Zahl von Zombies bevölkert werden. Es sind Untote in Menschengestalt, die mit kannibalistischer Lust auf die Jagd nach den wenigen Menschen gehen, die die Katastrophe überlebt haben und die sie auf bestialische Weise verspeisen, wenn sie ihnen habhaft werden können. Einer, der die Katastrophe überlebt hat, ist der Polizist Rick Grimes. Bei einer Polizeiaktion schwer angeschossen, erwacht er nun in einem Krankenhaus aus dem Koma. Er muss sich in einer Welt zurechtfinden, die ein schierer Albtraum ist: Er findet verwesende Leichenberge und stößt auf die sogenannten „Walker“, jene menschenfressenden Zombies, die der Katastrophe erlagen und dann als Untote wieder erwachten. Nun wandern sie durch die menschenleeren Städte auf der Suche nach Menschenfleisch. Rick sucht nach seiner Frau und seinem Sohn. Da alle Familienalben im Haus fehlen, hofft er, dass sie noch bei vollem Bewusstsein vor der Zombie-Pest haben fliehen und überleben können. In dieser Hoffnung wird er bestärkt, als er tatsächlich einige Überlebende trifft.

Zu Beginn entfaltet die von Autor, Regisseur und Koproduzent Frank Darabont ersonnene Serie einen großen erzählerischen Sog, da er die Geschichte sehr strikt aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt. Der Zuschauer weiß damit nicht viel mehr als der Protagonist. Die daraus entstehenden Überraschungseffekte erzeugen eine große Spannung. Gleichzeitig besticht die Machart der Episoden durch ästhetische Sorgfalt. Sie erstreckt sich nicht nur auf das realistisch gestaltete Setting, das den Zuschauer in Ausstattung und Szenenbild sehr glaubwürdig mit einer Industriegesellschaft nach einer verheerenden Katastrophe konfrontiert, sondern auch in der präzisen Verwendung von Tönen und Geräuschen. Die Serie ist sehr hochwertig produziert: Das aufwendig hergestellte Special-Effect-Make-up der Splatterszenen toppt sogar die Gewaltdarstellung vieler Kino-Vorbilder. Sound Design, Musikeinsatz, Kostüme und Figurenführung sind stark durch den Realismus klassischer John-Carpenter-Filme wie Assault – Anschlag bei Nacht inspiriert.

The Walking Dead: Überleben in einer Extremsituation

Je weiter man in die Seriengeschichte eintaucht, desto mehr wird klar, dass Darabont das aus dem Kino geerbte, äußerst spannend gestaltete Horrorszenarium als Hintergrund benutzt, um emotionale Konflikte und moralische Entscheidungssituationen zu verhandeln, die sich aus dem Leben der Überlebenden in dieser Extremsituation ergeben. Diese Entscheidungssituationen und -prozesse, denen auch moralische Überlegungen zugrunde liegen, nehmen in der Serie deutlich mehr Raum ein als die Schock- und Splatterszenen.

Andrew Lincoln als Rick Grimes, Season 5 © Gene PageAMC
Andrew Lincoln als Rick Grimes, Season 5 © Gene PageAMC

In Episode 1 trifft Polizist Rick zwei Überlebende, Morgan und Duane Jones, Vater und Sohn. Bei ihnen findet er Aufnahme und Schutz. Durch die beiden erfährt Rick – und mit ihm der Zuschauer – erstmals von dem starken Fieber, das die Erkrankten tötete und als Untote wieder erwachen ließ. Auch Jenny, Duanes Mutter, Morgans Frau, gehört zu den Zombies, die blutrünstig um das leer stehende Haus, das Versteck der Jones, kreisen. Mithilfe der Jones gelingt es Sheriff Rick, einen Vorrat an Waffen aus der Polizeistation zu holen. Bevor er weiterzieht, um seine Familie zu finden, lässt er ein Gewehr mit Zielfernrohr bei Morgan. Als sich Jenny in Zombiegestalt wieder dem Versteck nähert, nimmt Morgan sie ins Visier. Er will sie durch Kopfschuss töten. Nur so sind die Zombies wirklich tot und erlöst.

In einer emotional bewegenden Szene versucht Morgan, den tödlichen Schuss auf Jenny abzugeben. Moralisch wäre diese Sterbehilfe nachvollziehbar, doch Morgan sieht in diesem untoten Wesen im Visier seines Zielfernrohres immer noch seine Frau. Die Erinnerung an sie – in der Szene zuvor durch das Betrachten von gemeinsamen Fotos aus glücklicheren Zeiten aufgefrischt – und die Nähe, die er zu dieser Frau einmal hatte, verhindern, dass er sie töten kann. In einer Parallelsituation wird Sheriff Grimes vor eine ähnliche Situation gestellt. Eine von Zombies angefressene Frau robbt sich verzweifelt über den Rasen eines Parks. Grimes kennt diese Frau nicht näher. Er sieht nur ihr Elend, die Ausweglosigkeit ihrer Existenz. Er schießt ihr in den Kopf. Der Betrachter erlebt diese Situation als Erlösung der leidenden Kreatur. Die Parallelität der beiden Situationen verweist im Genre-Gewand auf das moralische Dilemma der Sterbehilfe und liefert hier den durchaus diskussionswürdigen und streitbaren Kommentar, dass die Sterbehilfe umso leichter falle, je anonymer das Verhältnis zwischen Sterbehelfer und dem Sterbenden sei. Nach diesen parallel geführten Entscheidungssituationen, sicher der emotionale Höhepunkt der Episode 1, wird durch eine Parallelmontage das Rätsel um Ricks Familie für den Zuschauer aufgelöst. Er erhält nun die Information, dass Ricks Frau Lori und sein Sohn Carl mit einer Gruppe überlebt haben, zu der auch Ricks Polizeikollege Shane gehört. Er unterhält eine Beziehung zu Lori und ist Carls Ersatzvater, denn Lori und Carl gehen davon aus, dass Rick nicht mehr am Leben ist.

Dieser Suspense-Effekt geht für den Zuschauer mit der Frage einher, wann Rick seine Familie wiederfinden wird? Diese Frage prägt die Episode 2, in der Rick Gefährten in der Großstadt Atlanta findet. In der Gruppe, die Rick rettet, kommt es zwischen dem Farbigen T-Dog und dem weißen Rassisten Merle zu einem Konflikt. Die Gruppe, nun mit Rick an der Spitze, entscheidet, Merle auf dem Dach des Kaufhauses, das ihnen als Versteck diente, an Handschellen gekettet zurückzulassen. Ricks neue Gefährten führen ihn zu jener Gruppe von Überlebenden im Wald, zu der auch Lori und Carl gehören.

In der Episode 3 findet Rick seine Familie wieder. Doch trotz des emotionalen Wiedersehens, das zugleich zu Komplikationen zwischen Lori und Shane führt, bleibt Rick nur eine Nacht. Wohl wissend, dass seine Frau und sein Sohn in der Gruppe unter Führung seines Freundes und Polizeikollegen Shane gut beschützt sind, entscheidet sich Rick, unter gefahrvollen Umständen nach Atlanta zurückzukehren. Er will die Tasche mit den Waffen holen, die er auf einer Hauptstraße hatte zurücklassen müssen, als er vor den Zombies floh. Damit will er für die gesamte Gruppe im Wald die Überlebenschancen erhöhen. Er zieht also die Sorge um das Gemeinwohl seinem privaten Glück vor. Damit wird Rick als klassisches Role Model des amerikanischen Helden präsentiert – einer oder eine, der oder die unkalkulierbare Gefahren in Kauf nimmt, um sich für die Allgemeinheit einzusetzen.

Zum Role Model des amerikanischen Helden par excellence gehört aber nicht nur dieser altruistische Charakterzug, sondern zugleich das stete Bemühen, die eigene Familie zu schützen. In dieser moralischen Entscheidungssituation in Episode 3 von The Walking Dead wird das Dilemma dadurch abgemildert, dass dem Helden eine zweite Figur an die Seite gestellt wird, die als „Familienheld“ fungiert: Rick weiß, dass Shane im Zweifelsfall Lori und Carl schützen kann. Dennoch können Lori und Carl Ricks schnelles Fortgehen nur schwer verkraften. Doch er setzt sich in seiner Entscheidung über die Nöte von Lori und Carl hinweg, was beide schließlich akzeptieren und ihn gehen lassen.

Rick kehrt aber auch noch aus einem weiteren Grund in die gefahrvolle Zombiemetropole Atlanta zurück. Er hat die von ihm forcierte Gruppenentscheidung, den Rassisten Merle seinem Schicksal zu überlassen, moralisch überdacht und sie als falsch erkannt. Trotz seines Rassismus bleibt Merle doch einer von ihnen – ein Mensch, den man nicht hilflos den blutrünstigen Zombies überlassen darf. Gemeinsam mit T-Dog, Glenn und Daryl, Merles Bruder, macht Rick sich auf den gefahrvollen Rückweg. Sie müssen feststellen, dass Merle sich selbst eine Hand abgetrennt hat, um sich aus den Handschellen zu befreien. Nun ist er verschwunden. Und auch bei der Wiederbeschaffung der Waffen geht einiges schief: Glenn wird von mexikanischen Gangstern entführt. Gangsterboss Guillermo will Glenn nur im Austausch gegen Ricks Waffendepot freigeben.

Rick entscheidet sich dagegen, weil Daryl, T-Dog und er auch ein Gang-Mitglied in ihrer Gewalt haben, das sie gegen Glenn austauschen wollen. Sie stürmen mit ihrer Geisel das Hauptquartier der Gang, ein Krankenhaus. Die Situation droht zu eskalieren. Da erscheint eine alte Frau, durch deren Auftreten die Handlung eine völlige Wendung nimmt. Der vermeintliche Gangsterboss Guillermo stellt sich als der Hausmeister des Krankenhauses heraus. Seine Mitarbeiter und er spielen nur martialische Gangster, um das Hospital voller alter Menschen und Kranker zu verteidigen. In der Auflösung dieser dramatischen Szene in Episode 4 zeigt sich en miniature noch einmal deutlich das Erzählprinzip von The Walking Dead: Die Serienmacher spielen sehr bewusst mit den Versatzstücken des Genre-Films, mit Elementen aus dem Splatter- und Horror-Genre, aber auch aus Action- und Gangsterfilmen.

Damit schaffen sie einen sehr populären Erzählrahmen, in dem sie dann plötzlich und unerwartet tief greifende Fragen von Humanität und Moralität verhandeln. Der vermeintlich morallose Zustand einer Gesellschaft jenseits einer (globalen) Katastrophe zeigt im Handeln der einzelnen Personen sehr wohl klare moralische Standards. Die Verwischung von Gut und Böse im Überlebenskampf in der gesellschaftlichen Extremsituation erweist sich als Schimäre. Der einzelne Mensch, der überlebt hat, kann – so will es The Walking Dead zeigen – weiterhin moralischen Standards folgen. Allerdings, dies zeigen Darabont und sein Team am Beispiel ihrer Figur des vermeintlichen Gangsterbosses Guillermo, erfordert dies manchmal auch List und Verstellung, um seine ethischen Grundsätze in böser Wirklichkeit noch umsetzen zu können. So präsentiert die Serie auch im weiteren Verlauf immer wieder überraschende Varianten im Verhalten der Figuren, um letztlich moralisch integer die dargestellten Extremsituationen meistern zu können.

Fazit

Die vorliegende Analyse der Serie The Walking Dead verdeutlicht, wie Erzählmuster des Horrorfilm-Genres genutzt werden, um ein publikumswirksames Entree zu schaffen, in dessen Rahmen die Rezipienten mit moralischen Dilemmata und deren Lösungen konfrontiert werden. Diese Erzählmethode ist durchaus exemplarisch auch für den Moraltransfer anderer Serien wie etwa der Kultserie True Blood von Autor, Regisseur und Produzent Alan Ball. Auch hier ließe sich an ausgewählten Szenen aus den insgesamt sieben Staffeln mühelos zeigen, wie vor dem Hintergrund einer romantischen Liebesbeziehung zwischen einem Vampir und einer jungen Frau, die sich als Fee herausstellt, politische Zeitgeist-Themen der aktuellen US-Gesellschaft verhandelt werden – speziell der Umgang mit allem Fremdartigen.

Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs (71) erschienen und steht als Download auf unserer Website zur Verfügung.

Über Werner C. Barg

Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Kino und Fernsehen. Außerdem ist er Regisseur von Kurz- und Dokumentarfilmen sowie Filmjournalist. Seit 2011 betreibt er als Produzent neben seiner Vulkan-Film die herzfeld productions im Geschäftsbereich der Berliner OPAL Filmproduktion GmbH. Zusätzlich engagiert sich Werner Barg als Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.