„Komfortzone Virtualität“

… oder: Warum wir heutzutage nicht mehr streiten

Können wir in Zeiten von Social Media überhaupt noch mit Konflikten umgehen? Mit dieser spannenden Frage beschäftigten sich Studierende von Prof. Joachim von Gottberg (FSF-Geschäftsführer und Chefredakteur tv diskurs) und Barbara Weinert (ehemalige Redakteurin tv diskurs) im Rahmen des Seminars Schreiben für die Medien an der Martin-Luther-Universität. Im letzten Teil unserer Beitragsreihe, in der wir einige Texte der Studenten vorstellen, hinterfragt Jonas Zeller, was ein Streit leisten muss.

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Es ist Samstagmorgen, 2 Uhr. Ich bin auf dem Rückweg von einer Party und sitze in der Straßenbahn, als eine Gruppe Jugendlicher zusteigt und sich in meine Nähe setzt. Nach kurzer Zeit beginnt einer der offensichtlich betrunkenen Jungen mich anzupöbeln. Er redet lautstark auf mich ein, droht mir mit geballter Faust und als ich nicht reagiere, packt er mich am Kragen. Die anderen Fahrgäste schauen beschämt in alle Richtungen, nur nicht in meine. Keiner sagt ein Wort und auch ich bin zu perplex, um dieser Unverschämtheit etwas entgegenzusetzen. „Warum habe ich ihm nicht einfach eine reingehauen?“, frage ich mich im Nachhinein. „Wieso habe ich ihn nicht angeschrien oder anderweitig auf mich aufmerksam gemacht?“

Können wir nicht mehr mit Konfliktsituationen umgehen?! Sind wir zu zivilisiert, um uns zu prügeln, zu emotional kontrolliert, um jemanden anzuschreien, zu stolz, um andere um Hilfe zu bitten? Es scheint, als hätten wir Angst vor den Konsequenzen zwischenmenschlicher Handlungen und hüllen uns deshalb in Gleichgültigkeit. Warum? Eine Antwort wäre vielleicht: Weil wir es nicht mehr gewohnt sind. In Zeiten von Facebook, Twitter, Google+, Instagram, Pinterest, Snapchat, XING, LinkedIn, YouTube, WhatsApp, Telegram usw. scheuen wir die Face-to-Face-Konfrontation mit Menschen, weil die Realität viel komplizierter ist als die Virtualität – und vor allem unbequemer!

Bildquelle: Pixabay -- Streitkultur: Silhouette auf Seitenprofil eines Paares (in schwarz-weißer Vektorgrafik), das sich anschreit.
Bildquelle: Pixabay

Mit dem Smartphone können wir alles googeln: Das Alter von Angela Merkel, ein Rezept für veganen Kaviar, den Weg nach Buxtehude … Praktisch, klar! Man muss nicht mehr umständlich eine Bibliothek aufsuchen, ein geeignetes Kochbuch finden oder gar einen Menschen nach dem Weg fragen – denn, mal im Ernst, wie zuverlässig sind Menschen schon? Mit ein paar Fingerbewegungen hier, einem Wischer dort oder gleich per Spracheingabe, liegt uns die Gesamtheit aller jemals gesammelten Informationen zu Füßen, oder vielmehr „zu Händen“. Im Umgang mit Menschen machen wir von eben diesen Informationen Gebrauch; niemand würde ohne Facebook noch an den Geburtstag eines anderen denken, ohne Lieferheld niemand mehr Essen zu sich nehmen, ohne Twitter niemand mehr streiten.

Aber kann man da überhaupt noch von „streiten“ reden? Ist es Böswilligkeit, wenn Donald Trump mal wieder digitale Seitenhiebe austeilt? Auf jeden Fall! Ist es konstruktiv? Ganz bestimmt nicht! Wenn Streiten jedoch eine Sache leisten muss, dann ist es das konstruktive Lösen von Konflikten. Kleinkriege auf Twitter sind zwar meistens leicht zu verkraften, zu virtuellen Streits hat man immerhin mehr Abstand als zu realen, und alles ist besser, als sich tatsächlich die Köpfe einzuschlagen, gleichzeitig aber verlieren wir auf diese Weise auch den Bezug zur echten Welt. Soziale Vernetztheit heißt, jeden zu kennen, aber eben auch nicht. Authentizität ist dieser Tage gefragt, das hat die Fake-News-Debatte zur Genüge gezeigt. Authentizität heißt in diesem Zusammenhang, die Quelle einer Information zu kennen, also im besten Fall den Menschen, der hinter ihr steht.

Der französische Essayist Stéphane Frédéric Hessel rief 2010 in seinem Text „Empört Euch!“ zum aktiven Widerstand gegen die aktuellen politischen Verhältnisse auf. Sieben Jahre sind seitdem vergangen, vieles hat sich verändert. Heute beschwert sich jeder über jeden – in den sozialen Netzwerken. Die Straßen bleiben derweil oft leer. In einem durch die Digitalisierung enorm beschleunigten Leben bleibt keine Zeit, um für seine Überzeugungen zu demonstrieren. Freiheit und Gerechtigkeit bleiben dabei nicht selten auf der Strecke. Doch der erstarkende Rechtspopulismus lässt sich nicht auf Twitter bekämpfen. Es bedarf echter menschlicher Auseinandersetzungen, Diskussionen und Streits.

Also lasst uns unsere Emotionen nicht länger nur mit Emojis ausdrücken. Lasst uns unser Essen nicht mehr nur über das Internet bestellen, um, wenn möglich, jeden menschlichen Kontakt zu vermeiden. Lasst uns öfter mal auf die Straße gehen und für unsere Interessen einstehen. Und lasst uns häufiger streiten, von Angesicht zu Angesicht und von Mensch zu Mensch. Denn Menschen sind eben doch der einzig halbwegs verlässliche Faktor in der Gleichung, die da heißt: Informationen sammeln, verarbeiten und bewerten, die uns helfen, ein gutes und gelingendes Leben zu führen.

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Über Jonas Zeller

Jonas Zeller studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neben der Aneignung praktischer Fähigkeiten in den Bereichen der Printproduktion und Webprogrammierung beschäftigt er sich auch intensiv mit den theoretischen Konzepten von Medien und Gesellschaft und verbindet diese stets mit aktuellen politischen Ereignissen. Seine gedanklichen Auseinandersetzungen, die er immer häufiger auch schriftlich festhält, reichen dabei von Aristoteles bis Zenon, von Sprachentwicklung bis Multimedia und von Nihilismus bis Kulturoptimismus.