Wo auch immer von „Identität“ die Rede ist, geht es im Kern um einige ganz einfache Fragen: Wer bin „ich“? Wer sind „wir“? Wer sind „die anderen“? Im Verlauf der Menschheitsgeschichte waren diese Fragen für die meisten Menschen bereits mit ihrer Geburt umfassend beantwortet. Wer beispielsweise vor 200 Jahren als erster Sohn eines katholischen Bauern in einem Dorf in Deutschland geboren worden war, wurde natürlich ebenfalls Bauer, war katholisch und blieb an seinem Geburtsort. „Wir“, das waren die anderen Bewohner des Dorfes, andere Katholiken oder andere Untertanen des gleichen Herrschers, je nachdem, welches „Wir“ im Bedarfsfall aufgerufen wurde. Aber es war eine überschaubare Anzahl von möglichen „Wir“, um die es ging. Entsprechendes galt für „die anderen“, gegen die das „Wir“ gesetzt wurde.
Heute sind die Verhältnisse dagegen äußerst kompliziert geworden. In vielen Ländern ist der Verlauf unseres Lebens keineswegs mit unserer Geburt determiniert. Der soziale Status unserer Eltern, ihr Bildungsniveau sowie ihre religiösen und politischen Überzeugungen müssen für uns nicht verbindlich sein. Nicht zuletzt in Europa gilt, dass vor allem individuelle Entscheidungen und das Nutzen von Lebenschancen darüber entscheiden, wer „ich“ eigentlich bin. „Identität“ wird daher logischerweise mehrheitlich nicht als etwas Gegebenes gesehen, sondern als Resultat individueller Auswahlprozesse, wobei die Zahl der zur Verfügung stehenden Optionen sehr unterschiedlich ist – manchmal eher klein (welche Berufe kann ich mit meiner Vorbildung realistisch erreichen?), manchmal etwas größer (mit welchen politischen oder religiösen Überzeugungen möchte ich mich identifizieren?), manchmal sogar unüberschaubar groß (welche persönlichen Merkmale oder Interessen möchte ich als identitätsstiftende einsetzen?). Als Konsequenz kann sich das „Ich“ nicht nur auf eine große Zahl unterschiedlicher „Wir“ beziehen, auch „die anderen“ können immer wieder andere sein.
Das heißt, meine Identität ist nicht nur nicht vorbestimmt, ich kann sie zudem im Verlauf meines Lebens ändern und situativ flexibel auf unterschiedliche Identitätsanforderungen reagieren – „ich“ verhalte mich im Büro anders als in der Familie, im Sportverein anders als beim Konzert meiner Lieblingsband. Im Normalfall bleibt schon immer der gleiche „Ich-Kern“ erkennbar, aber selbstverständlich ist das nicht. „Ich-Sein“ ist keine einfache Aufgabe, „Ich-Werden“ noch viel weniger. Diese Aufgabe müssen Kinder und Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden lösen, und sie ist mit radikalen Veränderungen der Lebenswelt verbunden. Spätestens mit dem Beginn der Schulzeit kommt zu der vertrauten Umgebung von Kindern eine zweite hinzu, in der sie anderen Menschen begegnen und anderen Anforderungen nachkommen müssen. Und spätestens mit der Pubertät verlieren Eltern bzw. Angehörige der Elterngeneration in der Regel die alleinige Leitbildfunktion. Auch Gleichaltrige bieten Orientierung, häufig sind sie sogar die wichtigeren Vorbilder – die Peergroup ist oft die zentrale Referenz, wenn es darum geht, das jugendliche „Ich“ im Rahmen der Identifikation mit einem „Wir“ zu entwickeln.
Der Weg zum Erwachsenen war für Kinder noch nie einfach, heute sind die Hindernisse jedoch besonders zahlreich. Die Flexibilisierung von Lebensverläufen, der Verlust der Verbindlichkeit von Religionen und Weltanschauungen, all das bietet zwar viele neue Möglichkeiten der Identitätsfindung, die frühere Generationen nicht hatten, dafür ist andererseits dem Zwang, ein Individuum zu werden, auch kaum zu entkommen. Und das nicht zuletzt unter einem vehementen Druck, schon frühzeitig an zukünftige Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu denken, wodurch auch die Vereinbarkeit von Kindheit und schulischen Anforderungen immer mehr gefährdet wird. Während es früher hauptsächlich darum ging, sich in Gegebenes einzufügen, müssen Kinder und Jugendliche heute lernen, auf der Grundlage ihrer materiellen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen eigene Optionen der Identitätskonstruktion zu erkennen und darunter auszuwählen, ehe dann das Erreichen der Identitätsziele angestrebt wird.
Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht spielen bei der Vermittlung von Identitätskonzepten an Kinder immer auch Medien eine wichtige Rolle. Wer lesen und schreiben lernte, tat dies von Anfang an mithilfe von Schulbüchern und der Bibel, also mithilfe von massenhaft verbreiteten Medienprodukten. Schon im 19. Jahrhundert, als „Massenkommunikation“ – die Kommunikation von öffentlichen Botschaften durch technische Verbreitungsmittel an ein disperses Publikum – noch fast exklusiv mit Printmedien identisch war, weitete sich das Kindern und Jugendlichen als Lektüre zur Verfügung stehende Angebot allmählich aus. Neben Schulbüchern und der Bibel hatten zumindest einige in einigen Ländern auch Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften, zu Unterhaltungsmagazinen und Heftromanen, von denen viele speziell für diese Zielgruppe verfasst worden waren – und all diese Medienprodukte waren auch Ressourcen für die Identitätsfindung.
Heute hat sich nicht nur die Aufgabenstellung verändert, da sich Kinder und Jugendliche mehrheitlich nicht bloß in vorgegebene Identitäten einpassen müssen, sondern eigene entwickeln, auch die medialen Ausgangsbedingungen sind vollkommen anders als im 19. Jahrhundert. Es gibt weitaus mehr Medien und in jedem einzelnen Medium eine riesige Angebotsmenge, und jedes einzelne Angebot kann Anregungen zur Beantwortung der drei Schlüsselfragen enthalten: Wer bin „ich“? Wer sind „wir“? Wer sind „die anderen“? Irritierend für viele ältere Menschen ist dabei nicht zuletzt die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche heute keine natürliche Hierarchie der medialen Identitätsressourcen kennen: Computerspiele oder Webseiten im Internet können für sie bei der Identitätssuche genauso nützlich sein wie anspruchsvolle Bücher und Qualitätszeitungen. Wie bei der Identitätskonstruktion insgesamt, so gilt auch hier: Es zählt die individuelle Entscheidung.
Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs 71, 1/2015 erschienen.