Schneewittchen in der Diskursmühle

Im netzbasierten Aufmerksamkeits-Overkill existieren zahlreiche Angebote, die versuchen uns über sogenannte Listicles zu triggern.
Oftmals flankiert durch Clickbaits, ist das Prinzip schnell erklärt: Fotostrecken oder Listicles suggerieren uns Usern, wir könnten uns durch eine salopp formulierte und bebilderte Aufzählung klicken und uns so ein komplexes Thema ohne viel Aufwand zu erschließen. Insbesondere Buzzfeed.com ist mit dieser Art Snack-Journalismus sehr erfolgreich (momentan etwa 150.000.000 Clicks pro Monat). Andere Plattformen machen das Gleiche, signalisieren aber auch ironisch und recht deutlich worum es geht, nämlich um unnützes Wissen, wie zum Beispiel: www.unnuetzes.com. Neben dem üblichen Schnick Schnack finden sich dort auch manchmal Fotostrecken, die doch nachdenklich stimmen, zumindest stutzen lassen. So konnte man kürzlich eine Listicle sehen, das sich 18 Szenen aus Disney-Filmen widmete, die „heute verboten wären“. Was folgt, sind teils abenteuerliche Interpretationen von Szenen aus Animationsfilmen, die offen legen sollen, wie sich die Diskurse und Einstellungen in den letzten Jahrzehnten veränderten. Aus heutiger Sicht, so wird geraunt, „wären sie in einem Kinderfilm wohl sicher nicht mehr erlaubt“. Mag die Interpretation der einzelnen Filmszenen übereifrig sein, so markieren diese zumindest im Kern gesellschaftliche Veränderungen.
Schauen wir uns das doch mal genauer an. Los geht’s mit dem „Tabu“ des Rauchens:

#1: Pinocchio – die Holzpuppe, die raucht
Oh mein Gott (#OMG) möchte man rufen! Pinocchio hat eine Zigarre.

Ältere werden sich erinnern, Rauchen war mal etwas sehr Selbstverständliches, weltweit. In Zugabteilen, Restaurants und sogar auf Flugreisen war das Rauchen akzeptiert. Das hat sich gravierend geändert. 2007 wurde in Deutschland das Bundesnichtrauchergesetz eingeführt, welches die Einführung eines Rauchverbots in den Einrichtungen des Bundes und in öffentlichen Verkehrsmitteln regelt und das Rauchen dort grundsätzlich untersagt. Auch in Restaurants ist das Rauchen zu einer Seltenheit geworden. Bemerkenswert, wie schnell dies Konsens wurde. In Schweden ist seit 1. Juli 2019 das Rauchen in der Öffentlichkeit gänzlich verboten. Aber zurück zu Pinocchio. In dem Listicle wird die moralische Stigmatisierung des Rauchens sogar auf die Privatsphäre übertragen, denn der kleine Holzmann sitzt ersichtlich in seinem Sessel. Seit wann ist das Rauchen auch im Privatleben verboten? Gesundheitsprävention hin oder her. Hier tritt ein Rigorismus zutage, der auch bei vielen anderen Themen zu beobachten ist.

#6: Schneewitchen – der ‚romantische’ Kuss einer vermeintlich Toten

Die Interpretation im Listicle bezieht sich auf die #MeToo-Debatte und auf Necrophilie: „Eine unbekannte Frau ohne ihr Einverständnis zu küssen, vor allem wenn es sich dabei um eine vermeintlich Tote handelt, ist mehr als zweifelhaft.“ Wie konnten wir diese düstere Kombi übersehen? In der Tat, der Diskurs über Gender, Macht und sexuelle Belästigung hat mit der #MeToo-Bewegung mächtig an Fahrt aufgenommen und das ist auch gut so. Aber haben wir es bei Schneewitchen wirklich mit einem #MeToo-Fall zu tun? Würde man(n) bei einem Notfall auf eine Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassagen verzichten, weil das Unfallopfer eine Frau ist? Natürlich nicht. Wäre dies ein sexueller Übergriff? Natürlich nicht. Und so steht bei diesem Listicle die Simplizität der Überinterpretation der zweifellos notwendigen Sensibilität für diese wichtige gesellschaftliche Debatte im Wege. Letztlich sind solche Interpretationen nicht förderlich für die Debatte, da sie am Kern des Problems vorbeigehen. Immerhin steht den beiden – also Schneewitchen und dem Prinzen – im Märchen sogar eine rosige Zukunft bevor. Aber vielleicht nehmen wir hier das Listicle auch zu ernst. Auf alle Fälle ist dies ein Beispiel für einen „moralischen Totalitarismus“, wie ihn Thea Dorn kritisierte, wofür sie wiederum kritisiert wurde. Das Listicle wartet mit weiteren diskursiven Problemzonen und eifrigen Interpretationen auf, die sich jeder selbst anschauen kann: Rassismus (z.B. #2 Siamkatze), Sklaverei (#3 Dumbo) sowie Nacktheit und Sexualität. Letzteres übrigens in einer recht prüden Variante, bei der nackte Brüste herumfliegender Hexen problematisiert werden (#9 Fantasia). Um nicht falsch verstanden zu werden, die Themen sind alle relevant. Die snippet-artigen Interpretationen und Schlussfolgerungen sind es eher nicht. Was sich hier zeigt ist auch ein übereifriger Moralismus, eine mit Furor vorgetragene Weltsicht, die an eine Reinheit medialer und diskursiver Angebote für Kinder appelliert, die weder umsetzbar noch gewollt sein kann. Natürlich ist es sinnvoll, auf veränderte Diskurse mit modifizierten Angeboten zu reagieren. Aber diese verkürzenden Auseinandersetzungen schaden eher. Und so ist das Fazit des Listicles pädagogisch gesehen auch nicht zielführend: „Wenn wir die Filme aber das nächste Mal mit unseren Kindern gucken, sollten wir ihnen an diesen Stellen vielleicht doch lieber die Augen zuhalten.“ Das ist letztlich die Kapitulation vor dem Diskurs. Besser ist es, sich mit den Kindern über solche Passagen und Aspekte auszutauschen. Sie können ja auch Anregung sein, mal darüber nachzudenken. Also, hinsehen und reden.

Über Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn, hauptamtlicher Prüfer der FSF, Dozent und Autor, Bildungsreferent der Medienwerkstatt Potsdam, zahlreiche Veröffentlichungen zur Mediengeschichte, Musiksoziologie, und Kulturwissenschaft. Von 2014-2019 Vertretung der Professur Onlinejournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuvor u.a. Arbeit an der Martin-Luther-Universität Halle und beim DRA Babelsberg.