Selfies und Selbstrepräsentation

Das Buzzword „Selfie“ beschreibt ein zentrales Kulturmuster der digitalen Gesellschaft. In der Selfie-Generation nehmen egozentrische Selbstdarsteller und smarte Power-User immer mehr Einfluss auf soziale Rollenmodelle, Identitätsskripte und politische Denkweisen der Gegenwart. Selfies sind längst nicht nur Verstärker der digitalen Ego-Netzwerke, sie beherrschen die Bildkultur der Gegenwart und formen das kollektive Gedächtnis für künftige Generationen.

Von Dr. phil. habil. Ramón Reichert, European Project Researcher an der University of Lancaster, Studienleiter und Koordinator des postgradualen Masterstudiengangs „Data Studies“ an der Donau-Universität Krems.

Das Medium einer selbstverliebten Generation?

Als im Jahr 2013 Barack Obama mit dem britischen Premier David Cameron und der dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt beim Begräbnis von Nelson Mandela für ein Selfie posierte, verlor der digitale Kult des Selbstporträts seine öffentliche Unschuld.

Selfie for British PM David Cameron, Danish PM Helle Thorning Schmidt & Barack Obama during #MandelaMemorial #AFP

Die britische Boulevardzeitung „The Sun“ titelte No Selfie Respect und skandalisierte den Schnappschuss gar als „Selfie-Gate“. Auf Twitter wurde das Obama-Selfie mit dem Hashtag #EpicFail konnotiert.
Obwohl das Selfie der drei Politiker nie die Öffentlichkeit erreichte und lediglich ein heimlich aufgenommenes Paparazzo-Foto das Posieren vor dem Handy belegte, tobte ein Shitstorm durch die sozialen Medien, der die moralische Integrität von Obama nachhaltig beschädigte. Warum konnte ein Bild, das in der Öffentlichkeit gar nicht sichtbar war, einen derartigen Skandal hervorrufen?

Selfies sind Fotos von sich selbst. Sie dienen der Selbstdokumentation und der Automedialisierung und befinden sich daher in einem diametralen Spannungsverhältnis zu sozialen Konventionen, in denen der Einzelne nicht im Mittelpunkt steht. Von dieser Spannung profitiert die mediale Skandalisierung der Selfies, die den „Narzissmus“ der Selbstdarstellung anprangert und dabei oft private Fotografien ins Licht der Öffentlichkeit zerrt (um sie noch bekannter zu machen).

Seit dem sogenannten „Selfie-Gate“ versucht die Medienberichterstattung, vor allem das jugendkulturelle Bildhandeln verächtlich abzumahnen. Es heißt dann, dass das Selfie stellvertretend für eine „selbstverliebte“ Generation stehen würde, die vor allem über Selbstbilder kommuniziert und nur an sich selbst interessiert sei. Es ist auffällig, dass die aktuellen Medienberichte den jugendkulturellen Gebrauch von Selfies allgemein als Narzissmus einer ganzen Generation brandmarken und dabei oft Mädchen zeigen, die ihre Handys als Spiegel benutzen. Damit suggerieren sie, dass Selfies genuin einem weiblich konnotierten Gebrauchskontext entstammen und instrumentalisieren Frauen als Allegorien einer moralisch verwerflichen Bildpraxis. Sie unterstellen Frauen ein genuin weibliches Genießen an der Selbstdarstellung und bestätigen damit alte Vorurteile und stereotype Ressentiments gegenüber Frauen.

Als Bildmotiv von Vanitas-Allegorien etablierten sich seit Jahrhunderten die sogenannten Toilettenszenen, die eine dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprechende Frau vor dem Spiegel zeigten. In seiner moralischen Verwendung wurde der Spiegel in den Allegorien der Sünden stets negativ eingesetzt und konnotierte „Unkeuschheit“, „Eitelkeit“ und „Stolz“, die an die „Schönheit“, „Jugendlichkeit“ und „Selbstverliebtheit“ der Frau gekoppelt waren. Dabei überwog die „selbstgefällige Eigenbetrachtung“ die kontemplative Funktion des „Sich-Widerspiegelns“. Durch die Verknüpfung der Vanitas-Allegorie mit dem Spiegelmotiv wurde ein Frauenbild entworfen, in dem sich ein „eitler“ Selbstbezug als schöner Schein entlarven sollte. Spiegelszenen kommunizierten stets auch eine normative Vanitas-Idee: Die in den Spiegel blickende Frau gelangt zu der Erkenntnis, dass er als Medium keines ihrer Bilder speichern kann. Diese Versuchsanordnung leitet das Motiv der Vergänglichkeit vom Scheitern ab, ein Bild der Frau herzustellen, das Bestand hat.

Bildkultur 2.0

Das Neue an Selfies ist, dass die Übertragung von Bildern instantan möglich sein kann, sie sind quasi in Echtzeit im öffentlichen Raum verbreitbar, und Selfies schaffen es, Skandale in der Öffentlichkeit herzustellen. Ein Beispiel dafür sind die in der Medienöffentlichkeit skandalisierten Holocaust-Selfies. Selfies werden heute etwa mittels Twitter verbreitet und können mithilfe von Retweet-Ketten binnen weniger Stunden Tausende Nutzer erreichen. Die rasante Verbreitung von digitalen Selbstbildern erweitert private Nutzungsräume und sorgt für eine bisher ungekannte Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit. Diese neue Vermischung von persönlicher Intimität und öffentlicher Wahrnehmung ist besonders augenfällig geworden an der Verbreitung von Selfies an Orten der kollektiven Erinnerungskultur.

Lesen Sie den vollständigen Beitrag auf tvdiskurs.de weiter. Hier steht Ihnen der Artikel, erschienen in der Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 4/2017 (Ausgabe 82), S. 32-36 auch als PDF zur Verfügung.

 

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