Aufregung gibt es jedes Jahr in Cannes. Regelmäßig sorgen die Kleidervorschriften bei Premieren für Ärger, Unmut gibt es auch über die stetig strengeren Sicherheitskontrollen. Spätestens seit vorigem Jahr gibt es aber ein weiteres Thema, das zuverlässig alle Gemüter erregt: das Verhältnis von Streamingdiensten zum Kino. Im Jahr 2016 wurden erstmals Filme gezeigt, an denen Amazon die Rechte hatte – ein Novum in Cannes, das bei anderen Filmfestivals längst keines mehr wäre. Aber Amazon strebt grundsätzlich eine Kinoauswertung an, also trat im Prinzip ein neuer Produzent auf. In diesem Jahr nun liefen mit Okja und The Meyerowitz Stories zwei Filme im Wettbewerb von Cannes, die von Netflix kommen.
Und Netflix zeigt zwar manche Produktionen wie beispielsweise vor zwei Jahren Beast of No Nation auch im Kino, aber nur in den USA – vermutlich hängt es mit der Zulassung für Filmpreise wie den Oscar zusammen – und in Ergänzung zu der Verfügbarkeit auf der Onlineplattform.
Damit trafen in der Entscheidung, diese Filme in Cannes zu zeigen, mehrere brisante Themen aufeinander: Zum einen war die französische Filmindustrie, die maßgeblich an der Finanzierung von Cannes beteiligt ist, sauer, weil Netflix sich nicht an die Regelungen hält, die in Frankreich gelten und bei der es um Abgaben für die heimische Filmindustrie sowie einer dreijährigen Frist geht, die zwischen Kinoauswertung und Verfügbarkeit auf Streamingplattformen geht. Also versuchte Cannes-Chef Thierry Frémaux die Gemüter zu beruhigen, indem er verkündete, ab 2018 müssten alle Wettbewerbsfilme in Frankreich im Kino laufen – wie Netflix damit umgeht, wird sich zeigen. Zum anderen wurde diskutiert, was das Engagement der Streamingplattformen für Filmemacher bedeutet.
Streamingdienst-Anbieter verändern das Filmgeschäft
Für David Ehrlich stellte sich die Frage, ob Netflix nicht vielmehr aus Kinofilmen Fernsehfilme macht, Richard Brody vom New Yorker sieht darin hingegen die Chance, dass Filme von mehr Menschen gesehen werden und stellte meiner Meinung nach völlig richtig fest, dass die Streaming-Anbieter nun einmal die Felder von allen am Filmgeschäft Beteiligten veränderten. Und dazu gehört auch die Arbeit des Filmkritikers, die nun dahingehend erweitert wird, dass man auf Produktionen aufmerksam macht, die bei Streamingdienst-Anbietern zu finden sind.
Eine dritte Frage wird indes meiner Meinung nach viel zu wenig diskutiert: Okja ist ein guter Film, er ist ambitioniert und visionär.
Warum wurde Bong Joon-hos Film nicht von einem Studio finanziert? Warum finden immer mehr Autorenfilmemacher, die das Arthouse-Kino prägen – also bspw. Martin Scorsese, Jim Jarmusch und Spike Lee – bei Amazon und Netflix offenbar die Freiheiten und finanziellen Mittel, die ihnen Studios nicht geben?
Dank eines Deals mit Amazon konnte Terry Gilliam nach mehr als 20 Jahren sein The Man who killed Don Quixote zu Ende bringen.
Hier geht es meines Erachtens um zweierlei: Geld und Chancen. Netflix und Amazon sind Unternehmen, sie wollen Gewinn machen und Abonnenten finden. Die Zusammenarbeit mit renommierten Filmemachern bringt Aufmerksamkeit und möglicherweise Zuschauer, die sich nicht von der trillionsten eigenproduzierten Serie locken lassen. Zudem müssen sie unablässig neue, attraktive Inhalte produzieren, die möglichst weltweit interessant sind. Deshalb setzen sie auf einen diversen Cast und ungewöhnliche Geschichten, sie haben im Gegensatz zu klassischen Filmproduktionsstudios längst erkannt, wie wertvoll bspw. Frauen als Publikum sind und kaufen und produzieren deshalb Filme von Filmemacherinnen. Während sich gerade bei den großen Studios die Tendenz zeigt, immer mehr auf das vermeintlich sichere Pferd zu setzen und das nächste Sequel, Prequel, Reboot und Superheldenabenteuer zu produzieren, leisten sich Amazon und Netflix ein größeres Risiko, da die Abonnenten ja bereits bezahlt haben.
Deshalb bieten sie auch für Filmemacher eine Chance: Gerade für unabhängige Produktionen ist es sehr schwer, einen Verleih zu finden. Streaming-Anbieter aber bieten nun Geld, mit denen Schulden bezahlt und neue Produktionen finanziert werden können – und ein Publikum. Sicherlich gibt es auch hier Nachteile: Die Filme müssen gefunden werden und nicht zuletzt ist gerade Netflix durch das Beharren auf Gleichzeitigkeit von Streaming und Kino sehr streng hinsichtlich einer zusätzlichen Kinoauswertung.
Dennoch sollte man in Netflix und Amazon weder Heilsbringer noch Todesschützen sehen. Sie verändern einen Markt, dem Veränderungen guttun, sie eröffnen Chancen für Filmemacher, die es bisher schwer hatten – weil sie nicht männlich und nicht „weiß“ waren, weil sie Filme machen, die nicht dem Mainstream entsprechen. Schade nur, dass Netflix und Amazon bis auf wenige Ausnahmen keine Zahlen veröffentlichen, was wie viel geguckt wird. Aber das ist ein anderes Thema.