Im Oderbruchdörfchen Altlangsow befindet sich ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Kleinod. 1832 war dort nach Plänen Karl Friedrich Schinkels ein Schul- und Bethaus errichtet worden. Im einstigen Klassenzimmer gibt es heute eine Gästewohnung und der Betsaal wurde zu einer Galerie. Die Vernissagen zu den monatlich wechselnden Ausstellungen erfreuen sich großer Beliebtheit. Einmal natürlich wegen der Kunst, die ein weltläufiges Gefühl in die Provinz bringt. Zum anderen trifft man hier bei Blechkuchen und Wein immer jemanden, den man schon lange wieder einmal sprechen wollte. Der Weg in das Haus führt über zwei in vielen Jahrzehnten durch Kirchgänger, Schulkinder und Galeriebesucher ausgetretene Steinstufen. Kommt gelegentlich ein Rollstuhlfahrer zu den Veranstaltungen, finden sich schnell helfende Hände, ihn über die Schwelle zu bringen. Kürzlich war das aber anders. Eine gehbehinderte Frau und ihr Begleiter wollten sich partout nicht helfen lassen. Sie hatten eine Vorrichtung erwartet, die ihnen ein selbstbestimmtes Betreten der Galerie ermöglicht. Ohne Kuchen, ohne Wein und ohne Blick auf die Kunst zogen sie empört wieder von dannen. Alle anderen blieben betreten zurück. Hier gab es niemanden, der nicht Mitgefühl gezeigt hätte und der nicht helfen wollte. Vielleicht war es aber gerade das, was das Paar nicht oder nicht mehr ertragen wollte. So haben sie die zwei Stufen als Provokation empfunden und alle Umstehenden zu Verantwortlichen gemacht. Möglicherweise sind wir für die empörten Gäste ungeahnt zum Beleg dafür geworden, dass das unmittelbar danach vor der Beratung gestandene Bundesteilhabegesetz unzulänglich sei.
Eigentlich sollte man glücklich sein, in einem Land leben zu können, welches es sich materiell leisten kann, ein Gesetz zu verabschieden, das u.a. Behörden und Ämter zur Barrierefreiheit verpflichtet. Doch ein Teil der unmittelbar Betroffenen sieht darin zuerst einen faulen Kompromiss. Als die Gesetzesvorlage im Bundestag verhandelt wurde, ketteten sich etliche Protestierer – ich stellte mir darunter unwillkürlich die beiden Galeriebesucher vor – am Reichstagsufer in Berlin an, um weiter reichende Verbindlichkeiten zu fordern. Auch privat betriebene Kinos und Gaststätten sollten etwa zu entsprechenden Baumaßnahmen verpflichtet werden. Wer so etwas fordert, der hat entweder keinerlei Ahnung von der Vielschichtigkeit der angesprochenen Szene, oder er ist in seinen Eigeninteressen so verfangen, dass er andere Facetten des Gemeinwesens nicht mehr wahrnehmen will. Multiplex-Kinos und Hotelrestaurants können leicht Fahrstühle vorhalten. Doch die zahlreichen Programmkinos und die ohnehin mit mehr oder weniger sinnigen Auflagen überzogenen Keller- und Eckkneipen würden mit einem solchen Gesetz in den sicheren Ruin getrieben werden. Auch für einen ehrenamtlich geführten Galerieverein würde sich die Existenzfrage stellen, wenn er wegen zweier Stufen einen behindertengerechten Zugang schaffen müsste. Abgesehen davon, dass der historische Backstein-Fachwerk-Bau unwiderruflichen Schaden nähme. Jeder kann doch sehen, was eine undifferenzierte gesetzliche Verpflichtung zur Wärmedämmung entgegen aller architektonischen und ästhetischen Abwägungen anrichtet. Im Sinne des vermeintlich Guten, nämlich dem Klimaschutz, werden Städte und Wohnsiedlungen zu monotonen Gebäudewüsten.
Politisch korrekt ist das, was ich gerade geschrieben habe, wahrscheinlich nicht. Ich halte es aber für vernünftig. Doch wo ist im Kontext der Political Correctness noch wirklich Platz für ausgewogene Vernunft? So lange das Thema in einem aufgeladenen Rechts-Links-Muster diskutiert wird, wahrscheinlich nirgendwo.
Ich kenne einen Berliner Lokalpolitiker, dessen Partei sich Die Linke nennt, der sich furchtbar über einen anderen Politiker aufgeregt hat, als in einer Fotoausstellung im Rathaus Köpenick zwei Frauenakte abgehängt wurden, weil man nicht eine mögliche Verletzung religiöser Gefühle von Migranten riskieren wollte. Die Maßnahme der vermeintlichen politischen Korrektheit wurde von einem CDU-Mann in Gang gesetzt, von dem man annehmen möchte, dass er zumindest noch ein bisschen konservativ ist.
Andererseits wurde meine Skepsis gegen- über allem, was sich vordergründig politisch korrekt gibt, in starkem Maße von links sozialisierten Protagonisten befördert. Als sich 1990 die Politik im wiedervereinten Berlin neu sortierte, gab es so etwas wie parteilich orientierte West-Ost-Patenschaften. Ich war seinerzeit beim Neuen Forum in Friedrichshain und dafür war die Alternative Liste aus Wilmersdorf zuständig. Wir waren neugierig aufeinander und es entwickelten sich Freundschaften, zu denen entsprechende Feiern gehörten. Dabei öffneten sich immer wieder Fenster für biografische Erzählungen. Ziemlich verstört war ich, als an einem Abend mit viel Alkohol die Lehrer, „taz“-Redakteure, Sozialarbeiter und Weinhändler von ihren einstigen Karrieren in diversen kommunistischen Zwergparteien erzählten. Sie berichteten von Kurierfahrten nach Frankfurt am Main, von ewigen Plenarsitzungen und erlittenen Parteistrafen. Inzwischen hatte sich natürlich der Weltverbesserungsimpetus von sozialen Klassenfragen weit entfernt. So konnte ich in diesen Kreisen erstmals erleben, dass Raucher zunächst in die Küche und dann ganz aus der Wohnung verbannt wurden. Man begann, die schon leicht ramponierten Körper für Marathonläufe zu präparieren – und auf dem Buffet wurden Buletten durch Falafeln ersetzt. Der Grappa blieb mehr und mehr im Keller. Irgendwann klangen die Sätze holprig, weil ständig ein „innen“ eingefügt werden musste. Und als Clou wurden später Anlagemöglichkeiten für Windanlagen empfohlen. Alles geschah im Sinne von irgendeinem Fortschritt und alles wurde im gleichen Eifer dargeboten, wie die Erzählungen vom seinerzeitigen Ausbruch aus dem Polizeikessel am „Kotti“ geklungen haben. Man wähnte sich voller Gewissheit auf der richtigen Seite und dabei klang alles so verdammt selbstgerecht und rechthaberisch.
An einem Abend sprachen wir über Literatur, die uns in der Kindheit geprägt hatte. Ich erwähnte Der Neger Nobi von Ludwig Renn. Nach Nennung des Titels kam ich nicht mehr zu Wort. Alle ereiferten sich allein darüber, dass man einen so rassistischen Begriff wie „Neger“ für einen Kinderbuchtitel verwenden konnte. Der historische Kontext spielte ebenso wenig eine Rolle wie der antikoloniale Duktus innerhalb der Geschichte. Wie komplex hätte man deutsche Geschichte diskutieren können, wenn nur einmal nach den biografischen Widersprüchlichkeiten des Autors Renn gefragt worden wäre: Spross sächsischen Adels, Offizier im Ersten Weltkrieg, Kommunist, Stabschef bei den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg, Exil in Mexiko – und im letzten Lebensviertel Zentrum einer dreiteiligen schwulen Lebensgemeinschaft in Berlin-Kaulsdorf, die heute in einem Ehrengrab auf dem Friedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde vereint ist. Nachdem schon lange der Humor verflogen war, tendierte nun bei solchen Gesprächen auch der Erkenntnisgewinn für mich gegen null. Man setzt sich permanent für irgend welche Minderheiten ein und meint letztendlich nur sich selbst. Meinungsvielfalt, Interessenausgleich – wichtige Ingredienzien der Demokratie –, ab wann sind das Minderheitshaltungen, für die wir gezwungen sind, ernsthaft zu streiten?
Die Kolumne von Klaus-Dieter Felsmann erschien in der 77. Ausgabe der tv diskurs: Political Correctness. Normierte Sprache gegen Diskriminierung.