The Sopranos – Schuld ohne Sühne? Die Moral des Soziopathen

Fortsetzung der neuen Blog-Reihe Gewalt und Moral in Serien. Gestern erschien bereits der erste Teil The Sopranos – Schuld ohne Sühne? Die Moral der Mafia. Heute nun Part zwei:

Die Moral des Soziopathen

„Ein Soziopath ist ein Mensch, der nicht nur lügt, sondern für den das Lügen zu seinem Lebensstil gehört. Er oder sie ist eine Person, die keine Reue kennt – egal, was sie auch verbrochen hat. Der Soziopath übernimmt keinerlei Verantwortung, weder für andere Menschen, noch für Dinge, noch für sich selbst. Gleichzeitig sind Soziopathen oft otv ei echte gefühlsmäßige Bindung zu anderen Menschen. Das Problem ist, dass viele Menschen leicht auf Soziopathen hereinfallen“, sagt die Psychologin Martha Stout, die das Verhalten von Soziopathen und Kriminellen eingehend analysiert hat.4
Genau dieses Krankheitsbild, das Psychogramm eines Soziopathen, steht im Mittelpunkt der Erzählung von The Sopranos, und James Gandolfini versteht es, das Publikum in einer perfekten Mischung aus Empfindsamkeit, Einfühlungsvermögen, Schwäche, Schuldgefühl, Brutalität und Kaltblütigkeit auf den Leim des Psychopathen Tony „Babyface“ Soprano zu führen, an dem auch Psychologin Dr. Melfi lange klebt.

Dr. Melfi (Lorraine Bracco) und Tony Soprano (James Gandolfini) (c) HBO
Dr. Melfi (Lorraine Bracco) und Tony Soprano (James Gandolfini) (c) HBO

Doch in Episode 7 der abschließenden Staffel 6.2 konfrontiert Dr. Melfis Kollege Dr. Elliot Kupferberg (Peter Bogdanovich) die Soprano-Therapeutin mit aktuellen Studien, die zeigen, dass Soziopathen und Kriminelle durch psychologische Beratung in ihrem Verhalten sogar gestärkt werden. Nachdem Kupferberg in der darauf folgenden Episode Dr. Melfi bei einem Essen mit Kollegen regelrecht „vorführt“, weil sie Soziopathen wie Tony Soprano behandelt, setzt sich Melfi ernsthaft mit diesen Studien auseinander. „Eine Therapie kann einem Nichtkriminellen helfen, für Kriminelle wird sie zu einer weiteren kriminellen Aktion“, liest sie dort, oder: „Ein Krimineller benutzt Einsichten, um schreckliche Taten zu rechtfertigen“, schließlich: „Die Sentimentalität eines Kriminellen zeigt sich im Mitgefühl für Babys und Tiere.“ Die Psychologin, die ehrlich helfen wollte, bricht die Therapie und jeden Kontakt zu T. ab. Er zieht in der Trennungsszene mit ihr alle Register, bezeichnet sie schließlich sogar als „unmoralisch“, weil sie in dieser schwierigen Familiensituation, in der Tonys Sohn A. J. (Robert Iler) kurz vorher einen Selbstmordversuch unternommen hatte, die Therapie beendet. Sopranos Verhalten in dieser Situation (vgl. Staffel 6.2, Episode 8) bestätigt noch einmal eindringlich die Thesen der Studie und verdeutlicht: Psychopathische Charaktere wie die Figur des Tony Soprano glauben, ihr moralisches Koordinatensystem selbst bestimmen zu können. Sie sehen sich außerhalb von Gesetzen und gängigen Moralvorstellungen. Sie benutzen diese einzig und allein, um ihr Umfeld zu manipulieren. Sie versuchen, die Regeln zu setzen, zu bestimmen und in jeder Situation zu kontrollieren. In der Episode 8 der 1. Staffel mit dem bezeichnenden deutschen Titel Die Moralisten wird dies an der Geschichte um Meadows Trainer Hauser symptomatisch deutlich: Als herauskommt, dass Hauser das Team verlassen will, um einen Job an einer Universität anzunehmen, erpresst und bedroht T. Hauser, das Jobangebot auszuschlagen. Als Meadow dann gegenüber Tony offenbart, dass Hauser mit Teamkameradinnen sexuelle Kontakte hatte, wollen T. und Sil, dessen Tochter auch von Hauser trainiert wird, ihn ermorden. Doch Artie wie auch Dr. Melfi erwecken in T. Zweifel, ermahnen ihn, den Fall der Polizei und Justiz zu überlassen. Schließlich bläst T. die Aktion ab. Erstmalig gibt er die Kontrolle aus der Hand, bestimmt die Regeln nicht mehr selbst. Folgerichtig wird erzählt, wie er am Ende der Episode mit totalem Kontrollverlust reagiert: Er betrinkt sich besinnungslos und randaliert vor den Augen Meadows in der eigenen Villa herum. Auch seine Ehefrau Carmela (Edie Falco) kann ihn in seinem betrunkenen Selbstmitleid nicht stoppen.

Die überraschende Auflösung des „Psycho-Plots“, der neben dem „Mafia-Plot“ ein zweiter Hauptstrang der Serie ist und u. a. das Besondere der Sopranos gegenüber üblichen Mafiafilmen markiert, lässt zudem T.s Taten für den Zuschauer plötzlich noch einmal in einem anderen Licht erscheinen: T.’s Mord an dem Mafiosi Ralphie Cifaretto (Joe Pantoliano) etwa (vgl. Staffel 4, Episode 4), dessen exzessive Gewalttaten (vgl. Staffel 3, Episode 6) T. lange hinnimmt, weil Ralphie ihm geschäftlich von Nutzen ist (vgl. Staffel 3, Episode 8), speist sich keineswegs aus irgendeinem ethischen Mitgefühl für Ralphies Opfer, sondern einzig und allein aus einer – wie in den Soziopathen-Studien beschriebenen – sentimental übersteigerten Liebe zu Tieren, hier aus der Rache für den Feuertod des von T. abgöttisch geliebten Rennpferdes Pie-O-My (vgl. Staffel 4, Episode 5). Für dessen Ermordung macht T. Cifaretto verantwortlich . Auch T.s Gespräche mit Dr. Melfi in der Phase, in der er erstmals Pussy als Verräter in Verdacht hat (vgl. Staffel 1, Episode 11 ff.), dienen ihm einzig und allein dazu, herauszufinden, ob sein Verdacht zutreffen könnte. Von T. zu Pussys schwerem Rückenleiden befragt, gibt die Psychologin bereitwillig Auskunft über die Psychosomatik von extremen Rückenbeschwerden und den dahinter liegenden psychologischen Problemen, etwa dem permanenten Verstecken von Geheimnissen, Schuldgefühlen etc. Dass Dr. Melfi mit ihren psychologischen Erläuterungen immer zugleich für den Zuschauer auch die Persönlichkeit Tony Sopranos Stück für Stück entfaltet, gehört ebenso zur raffinierten Erzählkonstruktion dieser Serie wie der bislang noch kaum erwähnte „Familien-Plot“, der der zentrale Handlungsstrang der Serie ist.

Tonys Umgang mit seiner Soprano-Familie rundet das Psychogramm des Soziopathen ab, markiert aber zugleich das Raffinement der Empathie- und Identifikationsmuster dieser Serie: „Kein Mensch kann vor sich selbst ein Gesicht und vor dem Rest der Welt ein anderes Gesicht tragen, ohne letztlich darüber in Verwirrung zu geraten, welches wohl das wahre ist“ – in Episode 5 der Staffel 1 wird Tony beim Collegebesuch mit Meadow mit diesem Sinnspruch des Schriftstellers Nathaniel Hawthorne konfrontiert. Der Satz beschreibt präzise die Zweigesichtigkeit, über die die Hauptfigur zunehmend in Konfusion gerät. Hier der Mafiosi T., dort der Familienvater Tony. Anhand der Erzählstrukturen dieser Folge wird exemplarisch deutlich, in welchem Koordinatensystem von Konflikten Tony steht, aus denen heraus seine Be- und Überlastung und seine psychologischen Probleme erwachsen: Während er eigentlich einen Familientrip mit seiner Tochter Meadow unternimmt, muss er ganz nebenbei ein Problem aus der Vergangenheit „aus der Welt schaffen“. Parallel telefoniert er mehrfach mit Carmela. Ihr gegenüber vermittelt er den Eindruck, dass alles in Ordnung sei, während er innerlich kocht und überlegt, wie er den Mafiaverräter umbringen kann. Auch Carmela spielt die „gute Ehefrau“, obwohl sich die beiden entfremdet haben und die Ehe schwierig ist. In dieser Nacht kann sie einer erotischen Situation mit einem befreundeten Priester nur noch schwer widerstehen. Schließlich wird T. auch noch von dem aufstiegswilligen Chris genervt, der in Telefonaten darauf brennt, den Mord an der „Ratte“ für ihn erledigen zu wollen. So wie T. sich im Verlauf der gesamten Serie immer tiefer in Mafiakonflikte verstrickt, steckt Tony in einem engen Korsett von Familienproblemen, die im Kern daraus erwachsen, dass er sein eigentliches Tun gegenüber den Familienmitgliedern zu verschleiern versucht. Gleichzeitig spinnt seine eigene Mutter Livia (Nancy Marchand) aus Frust darüber, dass ihr Sohn sie in ein Altenheim gesteckt hat, mit Onkel Junior Intrigen gegen ihn, die seine Mafiageschäfte beeinträchtigen. Den Mord seiner Schwester Janice (Aida Turturro) an ihrem Geliebten deckt er. Je mehr Geheimnisse er anhäuft, je tiefer er sich in Lügen und Widersprüche verstrickt, desto größer werden die Probleme mit Tochter Meadow und Sohn A. J., wachsen die Probleme mit Carmela.

Seinen Anspruch als Familienmanager kann Tony über weite Strecken der Serie nicht mehr erfüllen. Daran krankt er. Das permanente Essen, fast in jeder Szene der Serie, ist der physische Ausdruck seines psychischen Drucks und seiner wachsenden Schuldgefühle. Er frisst seine Probleme, seinen Frust wortwörtlich in sich hinein.

Anmerkung:
4
„Wo andere ein Gewissen haben, ist da nichts.“ Gespräch mit der Psychologin Martha Stout.

Und morgen geht es weiter, mit dem dritten Teil The Sopranos – Schuld ohne Sühne? Schuldgefühle suchen ihren Weg in der Soprano-Familie.

Wer sich nicht bis morgen, und bis zur Fortsetzung gedulden kann – dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs erschienen und steht in voller Länge auf tvdiskurs.de zum Download zur Verfügung. Wer die preisgekrönte Serie noch nicht kennt, kann sich ab dem 27. März selbst ein Bild machen. Sky Atlantic strahlt die erste und zweite Staffel ab diesem Datum in der Wiederholung aus.

Über Werner C. Barg

Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Kino und Fernsehen. Außerdem ist er Regisseur von Kurz- und Dokumentarfilmen sowie Filmjournalist. Seit 2011 betreibt er als Produzent neben seiner Vulkan-Film die herzfeld productions im Geschäftsbereich der Berliner OPAL Filmproduktion GmbH. Zusätzlich engagiert sich Werner Barg als Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.