Was ihr wollt

Der Platzhirsch im Online-Streaming-Geschäft, Netflix, hat bekanntermaßen die Karten in der TV-Landschaft neu gemischt, als er in die Produktion eigener Inhalte einstieg.

Von House of Cards hat inzwischen so ziemlich jeder etwas gehört. Als erste von einem Streaming-Service produzierte Serie war House of Cards eine aufsehenerregende Neuerung und heimste überdies Preise ein. Das eigentliche Novum dieses Streaming-Spielers auf dem TV-Markt liegt jedoch in der Art und Weise, wie die Beauftragung von Produktionen passiert. Netflix hat ein ausgeklügeltes Auswertungs- und Bewertungssystem für die Präferenzen seiner Nutzer hinterlegt, von dem TV-Sender nur träumen können. 67 verschiedene Klassifizierungsmöglichkeiten gibt es allein für Genres. Die Informationen für diese Einstufungen kommen, wie überall im Netz, von den Nutzern selbst. Und die Ergebnisse sind bares Geld wert. So basierte das Konzept für House of Cards – bereits erfolgreiches britisches Serienoriginal plus beliebter und für Qualität bekannter Regisseur plus populärer hochdekorierter Hollywoodstar – auf den Big-Data-Auswertungen des Nutzerverhaltens auf der Plattform. Ein Erfolg mit Ansage, so möchte man meinen.

Amazon, der Konkurrent, ist inzwischen auch ins Produktionsgeschäft eingestiegen und hat ebenfalls die Nutzer befragt. Allerdings direkt. 2013 produzierte das Unternehmen 14 Pilotfolgen und stellte sie kostenlos im Netz zur Verfügung. Dann durften die Zuschauer abstimmen. Aus den Gewinnern wurden Serien. Diese haben allerdings nie die Aufmerksamkeit generieren können wie etwa die netflixproduzierten Orange Is the New Black oder aktuell Silicon Valley. Aus dem Hause Amazon stammt zum Beispiel Alpha House mit John Goodman. Vor einem Monat debütierte Mozart in the Jungle mit Gael García Bernal und wurde als komplette Serie bestellt. Ob sich hier der Erfolg einstellt, wird man sehen. Amazon hat sich außerdem jüngst die Rechte an alten HBO-Serien gesichert und landete damit einen Coup. Auch künftige Serien des Bezahlsenders sollen drei Jahre nach deren TV-Ausstrahlung im Netz bei Amazon zu sehen sein. Mit dem Einkauf der sehr beliebten und oft preisgekrönten seriellen Dramen konnte Amazon seinem Hauptkonkurrenten Netflix zumindest in dieser Hinsicht die lange Nase zeigen. Das 3-Jahres-Embargo hat seinen Sinn, denn HBO will seine Eigenproduktionen natürlich zunächst auf den eigenen Kanälen gewinnbringend laufen lassen und verfügt zudem selbst über einen Streaming-Service – HBO GO, HBO zum Mitnehmen, sozusagen. (Sehr sehenswert übrigens: Die Werbefilme zur Plattform, über Kinder, die mit ihren peinlich berührten Eltern einige der Paradebeispiele für kontroverse und heikle Szenen in HBO-Serien sehen.)

Interessant an dieser Entwicklung ist, dass sie dem, was das Zeitalter der Serie einmal eingeläutet hat, diametral entgegenläuft. Es ist inzwischen popkulturelles Allgemeinwissen, dass die Serienrevolution von HBO ausging. Bei den Bezahlsendern taten sich in den 90ern kreative Spielräume auf, die es im klassischen TV nicht gab. Bei HBO gab man Autoren und Regisseuren freie Hand zu experimentieren. Sie waren keinen Werbekunden Rechenschaft schuldig, was zu einer regelrechten Aufbruchsstimmung und der Produktion einiger Serienklassiker führte. Das Publikum wurde allerdings auch nicht gefragt. Die Kreativen machten und hatten Erfolg. Immer nach der Quote und den vermeintlichen Zuschauervorlieben zu schielen, schien der Vergangenheit anzugehören. Der alten, piefigen Art, Massenfernsehen ohne innovative Formate und provokante Inhalte zu machen. Serien wurden staffelweise produziert und nicht häppchenweise den Launen der Zuschauer ausgeliefert, die in der Kürze der Zeit gar nicht ermessen konnten, ob sie etwas Gutes sahen. Die immer noch existierenden glühenden Anhängerschaften frühzeitig abgesetzter Serien wie Firefly oder Pushing Daisies sind der Beweis dafür. Und doch scheinen Netflix und Amazon nun genau dorthin zurückzukehren. Auch wenn man fairerweise sagen muss, dass auch Netflix Staffeln und keine Piloten in Auftrag gibt. Dennoch: der Auswahlprozess für das, was ich zu sehen bekomme, wird rationalisiert und von Experimenten befreit.

Natürlich geben die Auswertungen riesiger Datenmengen Einblicke in die Vorlieben der Zuschauer, die keine Quotenmessung liefern kann. Doch ich erwarte von einer kreativen Branche ja nicht, dass sie mir immer nur das zeigt, was ich schon kenne; das, von dem sie schon weiß, dass ich es mögen werde. Kunst soll mich überraschen und herausfordern. Was ist mit den Dingen, von denen ich selbst noch nicht weiß, dass ich sie mögen könnte? Mühevoll wurden Zuschauer während der letzten Jahre, inzwischen fast Jahrzehnte, dazu erzogen, dass sie geduldig erste und zweite Folgen anschauen, in denen nicht viel passiert, außer, dass die Hauptcharaktere ein- und die Grundidee der Serie vorgeführt werden. Denn Tiefgang und Kontroverse brauchen mitunter eine lange Exposition. Und nun geht Amazon zurück zum alten „Wir setzen alles auf den Piloten“-Prinzip. Wenn der nicht abhebt – Pech. Und Netflix gründet seine kreativen Entscheidungen auf Mathematik. Was auch erklären mag, wieso House of Cards eine merkwürdig oberflächliche und flache Angelegenheit ist, die nur so aussieht, als wenn sie Tiefe und Stil hätte, und wieso es bisher keines der Amazon-Produkte in den Serien-Olymp geschafft hat. Kreativität ist immer mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Doch der nun hart umkämpfte TV-Markt, auf dem sich inzwischen drei Spielergruppen tummeln – Online-Streaming, Bezahl-TV und klassisches Fernsehen – ist nicht mehr so risikofreudig wie er vor kurzem noch schien. David Simon, der Autor von The Wire, sagte zum Beispiel, dass er diese Serie, die von vielen als die beste aller Zeiten angesehen wird, heute bei HBO nicht mehr durchkriegen würde. Bei all der Big-Data-Verliebtheit und erneuten Fixierung auf den Kundenwunsch könnte wirkliche Kreativität auf der Strecke bleiben und das goldene Serienalter schon bald wieder zu Ende sein.

In der aktuellen tv diskurs 68 widmet sich Hendrik Efert dem Thema in It’s not TV … it’s Netflix!.
Gerüchten zufolge steht ein Deutschlandstart des US-amerikanischen Video-Streaming-Dienstes kurz bevor. Der Branchenriese würde den hierzulande noch jungen Video-on-Demand-Markt gehörig aufmischen. Welche Bedeutung hat Netflix für die Branche, die Produktion von Filmen sowie für Serien und deren Konsum? Diesen Fragen geht der Autor nach. Alle Beiträge können auf tvdiskurs.de abgerufen werden.

Über Katja Dallmann

Katja Dallmann hat ein Übersetzer-Diplom und einen Bachelor in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft abgeschlossen. Sie ist freie Übersetzerin und Autorin, hat als Onlineredakteurin gearbeitet und verschiedentlich in Print und Online publiziert. Katja ist leidenschaftlicher Serienfan und bloggt sonst unter Serielle Schnittstelle.