FSF-Prüferfortbildung zum Thema „Dystopien“, 29. September 2017
Ich glaube, ich würde es schaffen. Nach fast 50 von 100 FSF-geprüften Folgen von The Walking Dead fühle ich mich für ein Leben nach der Apokalypse und inmitten von Zombies gewappnet. Die Untoten machen mir keine Angst mehr. Die einzigen, die das können, sind Menschen. Aber machen wir uns nichts vor: Die Ereignisse der letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre lassen ohnehin keinen allzu belastbaren Optimismus aufkommen.
So dürfte es dann auch niemanden wirklich wundern, dass dystopische Erzählungen und Szenarien seit geraumer Zeit in immer größer werdender Zahl die Film- und Serienwelt durchdringen, die Umsätze der Spielindustrie erhöhen und auch in Literatur und Theater wieder stärker sichtbar werden. Es scheint fast zu trivial: In krisenhaften Zeiten steigt auf der einen Seite die Sehnsucht nach eskapistischen Welt- und Lebensmodellen, auf der anderen die Hinwendung zu noch tristeren und düsteren Zukunftsbeschreibungen, in denen gesellschaftliche und technologische, ethisch-moralische und soziale Entwicklungen die dunkelsten der möglichen Wege gehen.
Infolgedessen hat sich auch der Kinder- und Jugendmedienschutz verstärkt mit den überwiegend bedrohlichen, nicht selten monströsen und mitunter grausamen Zukunftsdramen zu beschäftigen, wie sie sich in Serien wie The Walking Dead (seit 2010), Game of Thrones (seit 2011), Chosen (2013–15) oder Westworld (seit 2016) mit ihren postapokalyptischen, mittelalterlichen oder das gesellschaftliche und soziale Leben pervertierenden Skripten präsentieren. Zeit also für eine FSF-Prüferfortbildung mit Fragestellungen wie: Was macht aktuelle dystopische Erzählungen aus? Warum fühlen sich insbesondere Jugendliche durch die Stoffe angesprochen? Und wie sind die drastischen Gewaltdarstellungen, die die jugendaffinen Formate mitunter beinhalten, zu bewerten.
Nils Warnecke (Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin), einer der drei Kuratoren der Science Fiction-Ausstellung Things to Come (2016), zeigte in seinem Einführungsvortrag – „Schöne Aussichten?“ Von der Utopie zur Postapokalypse. Aktuelle Entwicklungen des Science-Fiction Genres aus filmhistorischer Perspektive – Ausschnitte aus einschlägigen Dystopien der Filmgeschichte und führte durch deren Kontextualisierung noch einmal deutlich vor Augen: „[…] dieses Subgenre der Science Fiction [ist] trotz der Verlagerung des Geschehens in die Zukunft, ein Seismograph zeitgenössischer Ängste und der ihnen zugrundeliegenden Fehlentwicklungen“. Die zu verarbeitenden kollektiven Ängste sind dabei vielfältig, speisen sich aus totalitärem Kommunismus, entfesseltem Kapitalismus, Atomwaffen, Genmanipulation, Krieg, Sexualität, Jugend, Xenophobie, künstliche Intelligenz, Ende der Demokratie, Neuordnung der Welt usw.
Prof. Dr. Marcus Stiglegger (DEKRA | Hochschule für Medien, Berlin), ein ausgewiesener Nerd mit großer Kennerschaft im Bereich des „unterschlagenen Films“ – Horror, Splatter, Underground, Trash, Porno u.a. – stellte einige Dystopische Modelle in Science-Fiction-Filmen und Serien für Jugendliche vor und befragte sie nach den enthaltenen Angeboten, die sie an die Zuschauer, insbesondere den jugendlichen, zu machen in der Lage sind. Neben der bereits angesprochen Auseinandersetzung mit aktuellen Ängsten in der Reflexion gesellschaftlicher und sozialer Realität, sieht Stiglegger das Potential der in der Regel mit zahlreichen, nicht selten vertrauten Subgenres versetzten oder entsprechend informierten Hybridfilmen vor allem im Aufgreifen klassischer Entwicklungsthemen (Adoleszenz mit Pubertät, Körpererfahrung, Sexualität; Identität, Ausgrenzung, Initiation und Übergang usw.), die somit hauptsächlich für Jugendliche bestimmt zu sein scheinen. Die Angebotspalette ist reichhaltig und bietet neben anderen üblichen Möglichkeiten wie der Ausbildung ethisch-moralischer Einstellungen oder der Teilnahme am oder auch Positionierung im Gewaltdiskurs, in der Summe „ein Modell der Welterfahrung ex negativo“. Die Filmrezeption bietet somit im freiwilligen Aussetzen einer existentiellen Bedrohung auch die Möglichkeit des Kontrollversuchs.
Eine ganz einfache und überzeugende Antwort, die möglicherweise in die gleiche Richtung zielt, fand der 15-jährige Juls: „Mit schlechten Bildern Tiefgang zu erzeugen, ist einfacher als mit schönen.“