In jedem Jahr wohne ich in Lübeck im selben Hotel, das gleich um die Ecke von dem Kino liegt, in dem ich während der Nordischen Filmtage die meiste Zeit verbringen werde. Jedes Jahr staune ich spätestens am Freitagnachmittag angesichts der langen Schlangen vor den Kinosälen, die sich über eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung manchmal bis ins Foyer ziehen. Jedes Jahr ärgere ich mich über die Vergabe der Akkreditierungen die man erst beim Einlass zur Vorstellung bekommt und sich nicht bereits vorher besorgen kann, und reihe mich dann in die Schlangen ein. Und jedes Jahr widme ich fünf Tage meiner allerliebsten Filmregion: Nordeuropa.
Der Spielfilmwettbewerb in Lübeck
Freue ich mich sonst bereits, wenn zwei nordeuropäische Titel auf einem Festival laufen, sind es hier allein im Spielfilmwettbewerb achtzehn Filme aus Norwegen, Schweden, Dänemark, Island, Litauen und Estland – hinzukommen noch die Dokumentar-, Kinder- und Jugendfilme, die Beiträge der Specials und Retrospektive sowie norddeutsche Produktionen. Insgesamt waren daher in Lübeck in diesem Jahr 172 Filme zu sehen, achtzehn Titel habe ich geschafft. Erstmals waren in diesem Jahr darunter alle vier Preisträger im Spielfilmbereich: Den Kirchenpreis erhielt der Eröffnungsfilm 1001 Gramm von Bent Hamer, der Baltische Filmpreis ging an Svenskjævel (Underdog) von Ronnie Sandahl und den Publikumspreis bekam die schwedische Komödie Hallåhallå von Maria Blom, in der die warmherzige Disa nach ihrer Scheidung ihr Leben neu überdenken muss. Der Hauptpreis ging sogar an meinen persönlichen Lieblingsfilm Vonarstræti (Life in a Fish Bowl, Straße der Hoffnung) aus Island, in dem Baldvin Z mit beeindruckender Bildsprache und herausragenden Schauspielern von drei Menschen im Reykjavik des Jahres 2008 erzählt, also vor der großen Finanzkrise, die alles zum Platzen brachte. Sein Film zeigt sehr deutlich, dass bereits zu dieser Zeit nicht alles gut war.
Insgesamt dominierten im Spielfilmbereich in diesem Jahr die trotz der skandinavischen Komödientradition eher untypischen helleren Töne: Es ging um Aufbruch und Neuorientierung, auch gab es viele jugendliche Hauptfiguren. In gleich drei Filmen wurde versucht, die Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre lebendig werden zu lassen – und Kapgang, Beatles und Itsi Bitsi erzählen jeweils von Heranwachsenden und ihren Träumen im Leben. Sie gehörten zu dem Großteil der unterhaltsamen, aber doch konventionellen Filme in diesem Jahr.
Weitaus herausfordernder präsentierten sich drei andere Beiträge: In Höhere Gewalt seziert Ruben Östlund die Rollenbilder einer modernen schwedischen Familie, in Blind erzählt der Norweger Eskil Vogt verschachtelt von einer Frau, die ihr Augenlicht verliert und sich in ihre Fantasie flüchtet, und in Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach präsentiert Roy Andersson die für ihn typischen Szenen über die Absurditäten des Alltags.
Zuvor schon in Cannes, Berlin und Venedig gezeigt sowie ausgezeichnet, zählten diese Filme mit Vonarstræti eindeutig zu den Höhepunkten des Wettbewerbs. Höhere Gewalt und Eine Taube … werden am 13. November dieses Jahres bzw. am 1. Januar 2014 im Kino starten – und Vonarstæti wünsche ich sehr einen deutschen Verleih.
Ernsthaftere Töne zu Aufbruch und Neuorientierung fanden sich im Wettbewerb somit nur am Rande, dafür aber stärker in den anderen Sektionen. Gleich vier Filme beschäftigen sich mit der Situation von Flüchtlingen – aber über die wird in der neuen tv diskurs (Ausgabe 71, Januar 2015) ein ausführlicher Beitrag zu lesen sein.
Austausch und Roy Andersson
Daneben entwickeln sich die Nordischen Filmtage immer mehr zu einem Platz des Austausches. Mit mir waren dort zahlreiche andere Filmverrückte, die sich bei strahlendem Sonnenschein am Samstagnachmittag ins Kino setzten und den Rest des Tages über nordeuropäische Filme reden wollten. Schon im Frühstücksraum meines Hotels fingen Diskussionen an, die in den Warteschlangen vor den Kinos und im Zuschauersaal vor und nach dem Film fortgesetzt wurden. Beliebte Themen waren die Frage, was in Blind real ist, wie grausam He ovat paenneet (They Have Escaped) aus Finnland ist, den ich leider nicht gesehen habe, und vor allem Roy Anderssons Taube. Während die eine Hälfte der Zuschauer diesem Film ratlos gegenüberstand, zeigte sich die andere Hälfte begeistert ob der Kunsthaftigkeit und des Humors. Für mich war es – es ist ein wenig unangenehm, es zuzugeben – der erste Film von Roy Andersson, und schon nach wenigen Minuten wusste ich, dass ich von diesem Filmemacher mehr wissen möchte. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass ihm im Rahmen der Retrospektive eine kleine Hommage gewidmet war, und ich gleich am nächsten Tag eine Dokumentation über die Entstehung des Films Das jüngste Gewitter ansehen konnte. Zwei weitere seiner Filme warten nun zu Hause auf mich.
Jedes Jahr entdecke ich bei den Nordischen Filmtagen etwas – meist einen Regisseur oder tatsächlich ein Filmland. Seit meinem ersten Besuch liebe ich isländische Filme, vor zwei Jahren entdeckte ich Joachim Trier, im letzten Jahr Iram Haq – und in diesem Jahr Roy Andersson. Deshalb freue ich mich schon auf die Nordischen Filmtage 2015. Das Zimmer habe ich jedenfalls schon gebucht.