In Norwegen sehen sie dem Gras beim wachsen zu
Naja, nicht ganz. Aber sie sehen im Fernsehen Booten und Bahnen beim Fahren, Leuten beim Stricken und Holz beim Verbrennen zu. Da wäre das Gras nur der nächste logische Schritt.
Vielleicht würde auch das dieselben unglaublichen Einschaltqouten bringen wie die Boote und Bahnen. Und das Holz. Denn die sind bei Weitem kein Witz. Langsames Fernsehen – „Slow TV“ – nennt sich dieser Trend, über den inzwischen in der gesamten Weltpresse berichtet wird. Losgetreten hat ihn der norwegische Staatssender NRK 2. Als 2009 die landschaftlich spektakuläre Traditions-Bahntrasse Bergen-Oslo 100 Jahre alt wurde, hatte der Produzent Rune Møkleburst die Idee, die gut sieben Stunden dauernde Fahrt live zu übertragen. Komplett. Jede abgefahrene Minute. Wenn es in die Tunnel ging, gab es zur Überbrückung historische Aufnahmen der Bahnstrecke. Das Ganze erinnert etwas an das Nachtprogramm mancher deutscher Sender, nur dass dabei nicht mal annähernd mehrere Millionen Menschen zusehen. British Airways hat sich vor Kurzem sogar Rechte an den langsamen Sendungen für seine Langstreckenflüge eingekauft.
Das norwegische Phänomen scheint etwas gemein zu haben mit anderen Bewegungen, die das Langsame im Namen tragen, wie Slow Food etwa. Die Anhänger dieses Ansatzes essen nur Lebensmittel, die aus der näheren Umgebung stammen. Eine Gegenbewegung zur Globalisierung und der Absurdität weitgereister und umweltschädigend gekühlter und konservierter Lebensmittel. Das hat nur entfernt etwas mit Langsamkeit zu tun, aber Entschleunigung scheint auch in dieses erwünschte Lebensgefühl mit hineinzuspielen. Und so sieht „Slow TV“ auf den ersten Blick aus wie desselben Geistes Kind: wie die Gegenbewegung zur Omnipräsenz medialer Reize, wie eine Antithese zu Twitter und Facebook. Doch bei näherer Betrachtung hat es viel damit gemein, vor allem das Gefühl der Echtzeit. Etwas, was im Internet ganz groß geschrieben wird. Gefühlt immer dabei per Tweet, gefühlt immer erreichbar, gefühlt immer präsent in der Timeline. Der Journalist, der von der Konferenz in 140 Zeichen pro fünf Minuten berichtet. Der Freund, der seinen Urlaub auf Facebook ‚mitkurzbloggt‘. Die ständige Erreichbarkeit im Beruf, im Bekanntenkreis, der Familie. Das Immerzu-in-Kontakt-Stehen. Viel von diesem medialen Lebensgefühl scheint sich auch im Fernsehen der Langsamkeit wiederzufinden. Und es stellt doch auch ein Gegengewicht dazu dar.
„Slow TV“ ist ein merkwürdiges Konglomerat aus Anti und Mit. Das scheinbar Langweilige, vorgeblich Unbedeutende, eigentlich Uninteressante wird zelebriert. In aller Detailtreue. Es ist ein Happening und eine Auszeit. Doch für manchen ist es keine mediale Auszeit, keine Zeit der Twitter- und Facebookabstinenz. „Die Resonanz auf Twitter und Facebook war größer, als während jeder anderen TV-Sendung“, sagte Produzent Møklebust der Deutschen Welle. Das Bedeutendste an dieser Entdeckung der Langsamkeit scheint eher das Gemeinschaftsgefühl zu sein. Wie das, was sich bei Second-Screen-Twittergemeinden einstellt. Das Gefühl, mit vielen dabei zu sein. Etwas, was die Menschen in ihrem medialen Erfahren nicht missen wollen. Egal, ob es der Eurovision Song Contest ist, der im Sekundentakt durch Tweets kommentiert wird oder sei es ein Großereignis im Fernsehen – wie etwa die Fußball-WM –, das wie früher die Leute vor der Flimmerkiste vereint. Das Bedürfnis nach dem medialen Lagerfeuer – für viele findet es heute auch gleichzeitig auf der Leinwand und in der Timeline statt. Und es bricht sich immer wieder Bahn. Die WM zusammen in der Kneipe schauen und jubeln reicht nicht, die ganze Welt soll dabei sein, oder wenigstens das ganze Land.
Etwas Ähnliches bietet auch diese andere Art des norwegischen Erlebnisfernsehens. Und was die einen über Twitter und Facebook machen, tun die anderen gleich ganz live und hautnah. Bei der Übertragung der Fährenfahrt „Hurtigruten – minutt for minutt“ etwa versammelten sich Zuschauer an der Strecke. „Nach einem Tag realisierten die Leute, dass es live war und dass sie mitmachen konnten“, erzählte Møklebust dem SRF. „Und dann fing es an. Tausende kamen in die Häfen, an jeder Ecke hing eine norwegische Flagge oder ein Spruchband. Es war eine einzige riesige Party!“ Nicht umsonst heißen manche Sendungen „Nationale Stricknacht“ und „Nationale Feuerholznacht“. Und diese Namen tragen sie zu Recht. Denn drei Millionen der insgesamt fünf Millionen Einwohner Norwegens sahen zum Beispiel der Hurtigruten-Fähre bei ihrem 134-minutenlangen Schippern zu. Und der norwegische Sprachrat machte Sakte-TV, wie „Slow TV“ auf norwegisch heißt, zum Wort des Jahres 2013. Das norwegische Langsamkeitsschauen ist vielleicht nicht unbedingt eine Gegenbewegung zur Hektik des digitalen Medienlebens, aber vermutlich schon eine zur Fragmentierung, die es mit sich bringt.