Bei der diesjährigen Berlinale habe ich eine Tradition begründet: Wieder habe ich den Gewinnerfilm bereits nach Bekanntgabe des Programms vorhergesagt – und wieder habe ich ihn nicht gesehen. Damit will ich nichts über die Qualität dieser Filme aussagen, zumal diese von vertrauenswürdigen Kollegen mehrfach bestätigt wurde, sondern vielmehr auf einen oftmals wenig beachteten Faktor bei der Beurteilung eines Festivals hinleiten: die eigene Programmplanung.
Bei der 66. Berlinale liefen rund 400 Filme, aus denen man sich je nach persönlicher Leistungsfähigkeit, zu erledigender Arbeit während des Festivals, Terminierung der Filme sowie Schlaf- und Soziallebenbedürftigkeit in den elf Tagen, die akkreditierten Besuchern zur Verfügung stehen, bis zu 64 Filme aussuchen kann. Diese Anzahl hat eine Kollegin bei ihrer allerersten Berlinale geschafft, die sie noch als Studentin besuchte.
Ich schaue in der Regel drei bis vier Filme pro Tag. Nun könnte ich mir vornehmen, eine der 18 Sektionen zu besuchen, die es in Berlin gibt. Stattdessen aber wähle ich die Filme nach einem ausgefeilten persönlichen System aus: ich schaue (möglichst) alle Filme, die auf einer literarischen Vorlage basieren, aus Skandinavien stammen, für die ich einen Rezensions- oder anderen Arbeitsauftrag habe, an denen von mir geschätzte Regisseur/-innen, Drehbuchautor/-innen und Kameraleute mitgewirkt haben und Dokumentarfilme, die mich interessieren. Den Rest fülle ich mit Wettbewerbsfilmen, weil dort die meisten Werke laufen, die letztlich auch einen Kinostart bekommen.
In diesem Jahr ergab es sich, dass ich sehr viel in der Wettbewerbssektion unterwegs war, in der es insgesamt erstaunlich wenige Ausfälle gab, nach oben und nach unten. Zu den Highlights gehörte für mich der deutsche Beitrag 24 Wochen, der bei der Preisvergabe am Wochenende leider komplett leer ausgegangen ist. Vielleicht ist das Thema Spätabtreibung dann doch zu kontrovers. Außerdem Die Kommune von Thomas Vinterberg, für den Trine Dyrholm sehr verdient mit dem Silbernen Bären in der Kategorie Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Sie spielt eine Fernsehmoderatorin, die ihren Mann überzeugt, im geerbten Haus seiner Eltern in einer Kommune zusammenzuleben, und schließlich das langsame Scheitern ihrer Ehe verarbeiten muss.
Ein weiterer Höhepunkt war Spike Lees Chi-Raq, in dem er Aristophanes Lysistrata ins Chicago der Gegenwart überführt. Hier verweigern die (afroamerikanischen) Frauen den Männern mit dem einprägsamen Slogan „No peace, no pussy“ solange den Sex, bis die Gangmitglieder Frieden schließen. Es ist ein wütender, kraftvoller Film, der das Versagen der amerikanischen Politik und die Verherrlichung von Gewalt in am ursprünglichen Versmaß angelegten Texten anprangert.
Spike Lee hat ein antikes Theaterstück genommen, um seine Anklage der Gegenwart anzubringen, dagegen hat Vincent Perez aus Hans Falladas Buch Jeder stirbt für sich allein einen altbackenen und langweiligen Film gedreht, der vor allem ärgerlich ist. Emma Thompson und Brendan Gleeson spielen ein Berliner Ehepaar, das im Jahr 1941 Postkarten verteilt, die zum Widerstand gegen die Nazis aufrufen. Alle sprechen in diesem Film englisch – aber mit deutschem Akzent und möglichst deutscher Aussprache von ‚Führer‘! – und laufen durch ein Berlin voller glattgebügelter Hakenkreuzfahnen, das so sauber ist, dass es zu keiner Zeit authentisch ist.
Ohnehin dominierten britische Schauspieler bei den Literaturverfilmungen im Wettbewerb der Berlinale: in Genius spielen Colin Firth und Jude Law den amerikanischen Lektor Max Perkins und seinen amerikanischen Autor Thomas Wolfe. Leider konzentriert sich der Film sehr auf Wolfe, Hemingway und Fitzgerald, so dass die weniger kanonisierten Autor/-innen wegfallen. Aber immerhin findet der Film wunderbar nostalgische Bilder zu der Arbeit eines Lektors.
Ärgerlich war hingegen der Film Saint Amour, der zwar außer Konkurrenz, aber immerhin im Wettbewerb lief: eine zotige, schmierige Komödie über drei Verlierertypen, die auf einer Weinreise durch Frankreich auf überaus klischierte, willige Frauen treffen.
Ohnehin, die Frauen. Erfreulicherweise hat mit Mia Hansen-Løve eine Frau den Silbernen Bären für die beste Regie gewonnen. Es liefen zwei Filme von Frauen im Wettbewerb, das sind zwei weniger als im vorigen Jahr. Nun war immer mal wieder zu lesen, dass es in diesem Jahr der Wettbewerb der starken Frauen gewesen sei. Treffender wäre aber, dass die Filme, die eine starke Frauenfigur präsentieren, letztlich die besten Beiträge gewesen sind. Denn es ist nicht die Titelfigur, die Hedi bemerkenswert macht (wenngleich Majd Mastoura dafür den Silbernen Bären als bester Darsteller gewonnen hat), sondern die Frau, in die er sich letztlich verliebt. Dennoch bleibt es aber ein Film über einen jungen Mann, der nicht weiß, wohin sein Leben gehen soll.
Natürlich gab es auch in diesem Jahr wieder viel, was ich gar nicht wahrgenommen habe. Die Berlinale ist mit über 300.000 Zuschauern auch das größte Publikumsfestival der Welt, es gibt das Kulinarische Kino, Programmideen wie „Berlinale goes Kiez“ oder „European Shooting Stars“. Es gibt auch immer viele Stars zu sehen, oft wurde beispielsweise über George Clooney und Meryl Streep geredet. Und mit letzterer saß ich immerhin in einem Kino. Denn da bin ich nicht nur bei einem Filmfestival am liebsten.
Lesenswert: Tränen im Berlinale-Palast – Über 24 Wochen von Sonja Hartl.