Als am 31. August 2009 RTL mit Familien im Brennpunkt ein Format startete, das wie abgefilmte Realität wirkte, tatsächlich aber nach einem Drehbuch und von Laien gespielt wurde, folgte vor allem vonseiten der öffentlich-rechtlichen Sender und der Landesmedienanstalten ein Sturm der Entrüstung: Die Zuschauer würden bewusst getäuscht, gerade das jüngere Publikum könne kaum erkennen, dass es sich nur um eine Pseudodoku handle, es könne das Gespielte für Realität halten. Das führe bei Heranwachsenden zu einer Realitätsverzerrung. Sie würden ein falsches Normalitätskonzept entwickeln, da die Handlungen ausschließlich aus absurden Konflikten bestünden und die Dialoge kreischend in vulgärer Sprache geführt würden. Man ging davon aus, dass dieses „Lügenfern sehen“ eine stärkere Wirkung bei den Zuschauern erziele als solche Formate, die eindeutig als Fiktion erkennbar seien. In einer von Dr. Maya Götz durchgeführten Studie wurde zudem inhaltsbezogene Kritik deutlich.
Zur Überprüfung der öffentlich geäußerten Beanstandungen führte die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) 2012 eine exemplarische Inhaltsanalyse durch um herauszufinden, welche Rolle Scripted Reality bei der Entwicklung eines Normalitätskonzepts spielt. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel
Scripted Reality auf dem Prüfstand
Teil 1: Scripted Reality im Spiegel einer exemplarischen Inhaltsanalyse,
auf der FSF-Website veröffentlicht. Nach der Inhaltsanalyse wurden Jugendliche dazu befragt, wie sie Scripted Reality verstehen.
Im Zeitraum von März bis Mai 2013 wurden 25 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18 Jahren in leitfadengestützten Interviews zu Scripted Reality befragt. In den Gesprächen ging es zum einen um ihre Motive, sich diese Formate anzusehen, und um die Inhalte, die sie besonders interessieren. Es sollte festgestellt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die jugendlichen Zuschauer mit den Protagonisten identifizieren – worin ein Einflussfaktor auf das Normalitätskonzept der Zuschauer vermutet wird –, ob sie den fiktionalen Charakter der Formate erkennen und inwieweit dies den Verarbeitungsprozess beeinflusst. Schließlich sollte herausgefunden werden, was die Sendungen so authentisch macht. Im Mittelpunkt der Interviews stand die erste Scripted Reality-Serie Berlin – Tag & Nacht (RTL II).
Seit ihrem Start im Jahr 2011 konnte dieses Format innerhalb kürzester Zeit sehr hohe Marktanteile in der relevanten Zielgruppe verzeichnen. Im Unterschied zu den bisherigen in sich abgeschlossenen Sendungen ist die Serie ähnlich wie eine Daily Soap (z. B. Gute Zeiten, schlechte Zeiten) ein Endlosformat. Die Charaktere werden langfristig aufgebaut, und Konflikte können komplexer sein, weil sie nicht nur auf die Länge einer Episode begrenzt sind. Berlin – Tag & Nacht folgt ähnlich wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten einem Skript, nur sind die Schauspieler keine Profis, sondern Laien, die als Typus und von ihrem Beruf her den Rollen, die sie spielen sollen, ähnlich sind. Sie lernen keine Dialoge auswendig, sondern formulieren die Gespräche in ihrer eigenen Sprache. Das stärkt die Realitätssuggestion. Andererseits sind einige Darsteller, wie z. B. Joe und Ole, bereits aus X-Diaries (ebenfalls RTL II) bekannt, was eigentlich daran zweifeln ließe, dass es sich tatsächlich um „echte“ Personen handelt. In dem sehr erfolgreichen Facebook-Auftritt von Berlin – Tag & Nacht treten die handelnden Personen jedoch nicht unter ihrem tatsächlichen Namen, sondern in ihrer Rolle auf.
Die Ergebnisse in der Zusammenfassung
Berlin – Tag & Nacht hat – wie andere Fernsehserien auch – ein gewisses Suchtpotenzial: Viele Jugendliche bleiben irgendwann hängen, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Unabhängig davon, dass sie das Gespielte auch schon mal für Realität halten, hinterfragen sie die dargestellte Lebenswirklichkeit und gleichen sie mit ihrem eigenen Normalitätskonzept ab. Sie realisieren, dass die Geschichten zwar authentisch, aber keinesfalls real sein können. Ihr Abgleich mit der Realität zeigt, dass vieles übertrieben dargestellt wird und so eine Vielzahl an Konflikten im wahren Leben unwahrscheinlich wäre. Die Frage: „Realität oder Fiktion?“ spielt bei der Entscheidung, die Sendung zu schauen, keine Rolle.