Das neue Genre der Langeweile

Es ist dem wahrhaft seriellen Erzählen zu verdanken, dass das Fernsehen heutzutage die Qualität hat, die es hat. Dadurch, dass Handlungen und Charakterentwicklungen über ganze Staffeln verfolgt werden, haben Serien heute mehr Anspruch und Aussagekraft als je zuvor. Sie sind der kreative Tummelplatz von Hollywoodgrößen geworden und haben dafür gesorgt, dass das gesamte TV-Geschäft gehörig im Umbruch ist. Gerade Streaming-Plattformen haben mit ihrer Veröffentlichungspraxis sowohl die Produktionsweisen von Serien als auch unsere Sehgewohnheiten stark verändert. Wenn über diese Entwicklungen gesprochen wird, so wird häufig gesagt, dass es sich bei der Veröffentlichung einer kompletten Serienstaffel am Stück nicht mehr um eine Serie handelt, sondern um einen 13-stündigen Film.

Doch was bedeutet es genau, einen 13-stündigen Film zu drehen? Es bedeutet, dass die gesamte dramaturgische Struktur der Erzählung auf 13 Stunden ausgelegt ist. Es bedeutet: ca. 3 Stunden Exposition, etwa 6 Stunden Mittelteil, ungefähr 4 Stunden Finale. Es bedeutet, dass der erzählerische Bogen einzelner Folgen völlig außer Acht gelassen wird. Und es bedeutet, dass ich mich in letzter Zeit viel gelangweilt habe. Vor allem beim Schauen von Netflix-Serien. Ich kämpfte mich durch Sense8, gähnte mich durch Narcos und ich schwankte bei Jessica Jones eine Staffel lang zwischen angeödet und frustriert sein. Wobei die Frustration immerhin für Abwechslung sorgte. Und wenn man sich diese Serien so anschaut, dann spiegeln sie genau die eben beschriebene Struktur wider. Auch wenn nicht alle von ihnen 13 Episoden haben. In den ersten zwei bis drei Folgen passiert nichts, in den nächsten vier bis fünf wenig und in den letzten drei bis vier dann etwas.

Diese Serien haben allerdings noch etwas gemeinsam: sie alle sind erste Staffeln. Und auch dafür gibt es ein revolutionäres Rezept: erste Staffeln als Pilotfolgen ansehen. Da wird einem klar, wieso Sense8 ungefähr den Gehalt seines Trailers hat.


Serielles Erzählen mag für die Möglichkeit gesorgt haben, Tiefgang und Komplexität zu erzeugen, dass heißt jedoch nicht, dass sich Tiefgang und Komplexität durch ausgedehnt serielles Erzählen automatisch einstellen. Denn der Stoff muss es immer noch rechtfertigen, auf 10-13 Stunden verteilt zu werden. Die Stoffe werden immer dünner und Detailreichtum an sich sorgt noch nicht für Vielschichtigkeit.

Doch serielle Langatmigkeit ist keine reine Netflix-Erfindung. Auch an anderen Stellen macht sich dieser beunruhigende Trend bemerkbar. Sonja Hartl beobachtete dieses Phänomen in skandinavischen Serien. Bei The Legacy müsste man erst einmal durch die ersten drei Folgen durch, bis die Serie etwas vorzuweisen hat, schrieb sie letzten Sommer. Ergo: ausufernde Exposition. Bei Blutsbande könnte man die Erzählstränge schon auf Kilometer gegen den Wind riechen und bei Mammon träte Verworrenheit und Masse an die Stelle echter Komplexität. Ergo: Detailreichtum ohne Tiefgang.

© 2015: Bajstock.com
© 2015: Bajstock.com

Zum Glück sind nicht alle Serienmacher Anhänger der Mär‘ vom 13-stündigen Film. Edward Burns erzählte von der Konzeption seiner Serie Public Morals zwar, dass auch er zunächst die gesamte Serie wie einen Roman angegangen sei – eine  Vorgehensweise, die schon The-Wire-Macher David Simon praktizierte – sich dann jedoch Hilfe bei der Strukturierung der einzelnen Folgen geholt habe. Die dramaturgische Konzeption dieser war hier eben nicht zweitrangig und das merkt man der Serie auch an. Hier muss man nicht erst durch etliche Stunden Exposition durch und trotzdem nimmt sich die Serie die Zeit, ihre Figuren nach und nach sehr genau zu charakterisieren.

Manche Autoren argumentieren inzwischen sogar, dass es sich bei auf einmal veröffentlichten Serien, die von vielen auch am Stück geschaut werden, um ein ganz neues Genre handelt. Eines, das sich eben nicht um die Strukturierung einzelner Folgen scheren muss. Doch ein solcher Ansatz ist meines Erachtens nicht das beste Ergebnis der neuen Veröffentlichungspraxis. Besser ist, dass sie rein pragmatisch gesehen dafür gesorgt hat, dass es keine Zusammenfassungen zu Beginn einer Folge mehr braucht. Diese kann inhaltlich nahtlos an die vorherige anknüpfen, wenn das gewollt ist. Auch muss die innere Logik einer Folge nicht mehr dem Werbepausenschema folgen oder eine abgeschlossene Erzählung bilden. Auch die Konvention, dass Personen und Orte immer vertraut sein müssen, kann durchbrochen werden. Mit Kontinuität und Chronologie wird gespielt. In Penny Dreadful etwa gibt es immer wieder Folgen, die sich eine oder auch mal zwei Personen herausgreifen und eine Stunde lang nur deren Geschichte erzählen. Und bei Daredevil nahm man sich die Zeit, eine Episode lang die Hintergründe des großen Widersachers zu beleuchten bzw. einen kammerspielartigen Konflikt zwischen dem Helden und seinem besten Freund durchzuspielen.

Diese Dinge sind möglich, weil man mehrere Stunden für das Erzählen der Gesamtgeschichte Zeit hat. Sie sind jedoch nicht exklusiv in staffelweise veröffentlichten Serien zu beobachten. Und sie sind spannendere Stilmittel als der Verzicht auf eine dramaturgische Struktur einzelner Folgen und das Verwässern von  Handlungssträngen durch unnötiges Auswalzen auf mehrere Stunden. Wenn das das herausstechende Merkmal dieses angeblich neuen Genres ist, dann würden die Qualitätsserien damit einen Schritt rückwärts machen. Einen langen Atem zu haben sollte nicht zur Voraussetzung für das Zusehen werden und das Argument ‚Das wird dann aber noch besser‘ nicht zur Standardverteidigung schlecht gemachter Serien.

Über Katja Dallmann

Katja Dallmann hat ein Übersetzer-Diplom und einen Bachelor in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft abgeschlossen. Sie ist freie Übersetzerin und Autorin, hat als Onlineredakteurin gearbeitet und verschiedentlich in Print und Online publiziert. Katja ist leidenschaftlicher Serienfan und bloggt sonst unter Serielle Schnittstelle.