FSF-Prüferfortbildung „Too much!? – Sexuelle Inhalte im Fernsehen und ihre Bewertung aus Jugendschutzsicht“
Darstellung und Thematisierung von Sex und Sexualität gehören zu den vieldiskutiertesten Medieninhalten, auch bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Kein anderes Thema erzeugt so viele Hotline-Beschwerden. Eltern kritisieren sexuelle Darstellungen, weil sie ihre Kinder überfordert sehen oder auch sich selbst in den daraus resultierenden Gesprächen mit dem Nachwuchs. Sexualität, deren Darstellung und die Kommunikation darüber, ist von derart unterschiedlichen und sich nicht selten überlagernden gesellschaftlich, kulturell, religiös, moralisch, biografisch bedingten Grenzziehungen betroffen – vom Entwicklungsstand jedes Einzelnen mal ganz abgesehen –, dass die Frage nach dem Richtigen oder Falschen kaum befriedigend zu lösen scheint. Dies betrifft auch die Arbeit der FSF-Prüfausschüsse, in denen diesbezügliche Einschätzungen zu möglichen Entwicklungsbeeinträchtigungen, dem Mantra des Kinder- und Jugendmedienschutzes, nicht selten auseinandergehen.
Wann, wie und ab welchem Alter ist eine Darstellung möglicherweise unbedenklich oder sogar hilfreich, wann ist die Konfrontation hingegen verstörend und übermäßig ängstigend?
Was bewirken explizite Darstellungen von Sexualität, wie beispielsweise in der Serie The Deuce, in welcher es die explizite Szene eines Pornodrehs ins Hauptabendprogramm schaffte?
Wie ist mit sprachlichen Entgleisungen in einem Lied wie Lass Fotzen reden von Nimo umzugehen, in dem das gemeinhin als obszön, diffamierend und frauenverachtend empfundene Schimpfwort zwar 45-mal zu hören ist, es aber lediglich als bayerisch-mundartliche Beschimpfung einer „nicht weiter spezifizierten Personengruppe, die dem Performer offenbar seinen Erfolg und Lebensstil nicht gönnt“ (FSF-Prüfgutachten) gemeint sein soll, artikuliert von einem deutschen Rapper iranischer Abstammung aus Baden-Württemberg in einer der Frauenverachtung und Diffamierung gänzlich unverdächtigen Subkultur.
Die Medienpsychologin Prof. Dr. Nicola Döring (TH Ilmenau) versuchte im Rahmen der FSF-Prüferfortbildung am 28. September 2018 eine Hilfestellung für die Arbeit der Prüfausschüsse zu geben. Sie gab eine Einschätzung ab bezüglich der Forschungsergebnisse zu entwicklungsbeeinträchtigenden Effekten entsprechender Medieninhalte bei Kindern und Jugendlichen. Außerdem warnte sie vor den überwiegend „alarmistischen Diskursen“ über Frühsexualisierung durch Sexualpädagogik oder Sexualisierung und Pornografisierung durch Medien und Konsumprodukte, in denen die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht selten verortet werden. Die beschworenen negativen Wirkungen einer sexuellen Verwahrlosung, Verrohung und Orientierungslosigkeit sieht sie eher einer „irrationalen Moral- bzw. Sexpanik“ geschuldet, aber nicht durch die empirische Forschung belegt. Mag auch die Nutzung sexuell konnotierter Medieninhalte bei Kindern und Jugendlichen heute früher einsetzen, das Ausleben der eigenen Sexualität erfolgt später. In der Negativzeichnung, die zudem in der Regel verbunden ist mit einem Schutz- bzw. Bewahrkonzept, sieht Döring die Gefahr, neben den einhergehenden Einschränkungen von Freiheitsrechten, die positiven Wirkungen zu negieren, die mit Sexualität einhergehen könnten und sollten: Identitätsbestätigung, Autonomieerleben, Beziehungsbildung, Lust, Lebensfreude, Lebensenergie, Körpergefühl usw.
Einen ähnlichen Perspektivwechsel schlägt sie für die Bewertung von Medieninhalten und deren Wirkungen vor und plädiert auch hier dafür, neben den problematischen Aspekten auch deren Chancen zu sehen, die Möglichkeit „widerständiger Rezeptionsweisen“ zuzulassen sowie die Notwendigkeit von Rollenmodellen und Medien als Bausteine von Doing Gender und Doing Sexuality anzuerkennen.
Gleichwohl konnte Döring die Hoffnungen der Kinder- und Jugendschützer nicht erfüllen: Die FSF-Prüfpraxis muss auch bis auf Weiteres ohne wissenschaftliche Theorien und Befunde auskommen. Biologisch-psychologisch-soziale Modelle für eine normale und optimale sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fehlen ebenso wie Erkenntnisse zu den Prozessen damit verbundener Medienaneignung. Döring fordert hier ein stärkeres Forschungsengagement, das auch oder vor allem die positiven Aspekte in den Fokus nimmt. Bezogen auf die Medienrezeption und -wirkung schlägt sie zudem eine engere Vernetzung von Forschung und Praxis vor, wobei auch die Expertise der FSF einzubinden sei.