Der Freund von Laura

Vor einigen Wochen erhielt ich einen Anruf von der 12-jährigen Julia*, der Tochter einer nicht sehr onlineaffinen Freundin. Sie sagte mir, dass sie per WhatsApp eine Nachricht vom „Freund von Laura“ erhalten habe und wollte von mir wissen, ob das der Freund von Laura – der Tochter einer anderen Freundin von mir – sei, die sie auch kenne. In diesem Fall konnte ich die Frage klar verneinen, da ich zufällig wusste, dass Laura keinen Freund hat. Ich erklärte Julia, dass es ein Versuch sei, zu ihr Kontakt aufzunehmen, indem sich jemand als Freund von „einem möglichst verbreiteten Mädchennamen“ bezeichnet, und sie darauf niemals reagieren solle.

Einen kurzen Moment lang habe ich mich gefreut, dass Julia mir genug vertraut, um mich danach zu fragen. Dann begann ich mir aber vorzustellen, was hätte alles passieren können. Vielleicht wollte jemand nur Geld oder Daten ergaunern, das wäre ärgerlich. Aber wenn Unbekannte zu Kindern bzw. Jugendlichen Kontakt aufnehmen, gibt es auch genug andere Beweggründe: Dahinter könnte das unerwünschte „Anbaggern“ von Gleichaltrigen stecken oder die plumpe Aufforderung, intime Informationen oder Fotos zu schicken.

Es könnte sich aber sogar um „Cybergrooming“ handeln. Dieser Begriff bezeichnet das gezielte Ansprechen von Minderjährigen im Internet mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs. Die (meist männlichen) erwachsenen Täter nähern sich Kindern und Jugendlichen, indem sie ihnen Komplimente machen, ihnen schmeicheln (to groom, engl. pflegen) und dadurch Vertrauen aufbauen. Manche geben sich als Gleichaltrige aus, andere machen aus ihrem Alter keinen Hehl.

Mädchen im Kinderzimmer mit einem Tablet (PC) in der Hand © sh/fsf
© sh/fsf

Bedenkt man nun, wie unsicher Heranwachsende in der Orientierungsphase bezüglich ihres Aussehens sind – wie sehr ihnen eingeredet wird, sie müssten einen makellosen Körper, perfekt gestylte Haare usw. haben, um einen Freund, eine Freundin zu finden –, ahnt man, dass diese Altersgruppe besonders empfänglich für Komplimente ist. Sie finden an ihnen Gefallen, erwidern den Kontakt und bauen eine Beziehung zu dem „Onlinefreund“ auf, der schon bald weitere Fotos erbittet – und sich irgendwann Bilder in eindeutigen sexualisierten Posen oder Nacktaufnahmen wünscht (die dann bspw. in einschlägigen Foren verkauft werden).
Jetzt haben die Täter ihr Ziel so gut wie erreicht: Werden die Opfer nach Übersenden solcher Fotos erstmals beunruhigt und kritisch, wollen gar den Kontakt abbrechen, haben die Täter mit den Bildern ein Druckmittel in der Hand, um Jugendliche wie Julia zu erpressen, sollte sie sich nicht freiwillig zu einem Treffen bereiterklären.

Filme erzählen immer wieder von diesen Vorgängen – sei es Homevideo (2011) mit Jonas Nay oder aktuell Das weiße Kaninchen von Florian Schwarz – morgen um 20.15 Uhr in der ARD zu sehen. Dennoch ist diese Gefahr nicht abstrakt und ins Reich der Fiktionen zu verweisen. Je nach Studie wurde jedes sechste bis zehnte Mädchen im Internet schon einmal (sexuell) belästigt, Jungs etwas weniger.

Wichtig ist es daher, Kinder und Jugendliche in ihrem Onlineverhalten von Anfang an zu begleiten. Dadurch ist eine gute Basis für gegenseitiges Verständnis und Vertrauen geschaffen. Mit Filtern und Verboten werden Kinder nicht allumfänglich geschützt, womöglich steigern sie sogar den Reiz, sich über die Grenze hinwegzusetzen. Deshalb sollten erwachsene Bezugspersonen lieber über die Gefahren aufklären, die Heranwachsenden für einen Umgang mit ihren Daten und Bildern sensibilisieren, auf Kontaktrisiken hinweisen und vereinbaren, dass sie sich an sie wenden, wenn ihnen eine Onlinebekanntschaft viele Komplimente macht oder gar Fotos einfordert. Heranwachsende sollten wissen, dass sie mit jedem Problem Hilfe und Unterstützung finden, ohne dass sie eine Strafe befürchten müssen. Denn wie beim Umgang mit jedem Medium ist auch im Internet das Maß und die Begleitung wichtig. Julia hat die Nachricht jedenfalls sofort gelöscht.

Weitere Informationen mit Hinweisen zu Beratungsstellen:
Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs: Prävention Cybergrooming

*Der erzählte Einstieg hat sich wirklich so zugetragen, die Namen wurden allerdings geändert.

Über Sonja Hartl

Sonja Hartl studierte Deutsche Sprache und Literatur, Medienwissenschaft und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg und schreibt seither als freie Journalistin über Film, Fernsehen und Literatur. Außerdem betreibt sie das Blog Zeilenkino und ist Chefredakteurin von Polar Noir.