Filmgespräch der FSF-Medienpädagogen mit Grundschülern einer 5. Klasse zum Berlinale-Film Woorideul
500 Kinder drängen sich innerhalb weniger Minuten am Einlass vorbei in den Kinosaal. Darunter 22 Schülerinnen und Schüler einer 5. Klasse der Grundschule am Kollwitzplatz, die sich in die erste Reihe des vollbesetzten Hauses der Kulturen der Welt wühlen, wo sie heute mit uns einen Film auf der Berlinale sehen werden. Da innerhalb der Sektion Generation seit über 30 Jahren vornehmlich Filme laufen, die thematisch und formal die Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen ins Zentrum rücken, bekommen die jüngsten Zuschauer hier – im Gegensatz zum alltäglichen Kinoangebot, das sich im Bereich des Kinderfilms auf deutsche, amerikanische und bestenfalls noch skandinavische Produktionen beschränkt – die Möglichkeit, Filme aus allen Teilen der Welt zu sehen.
Heute schauen wir mit den Schülerinnen und Schülern den koreanischen Film Woorideul (dt.: In unserer Welt) der Regisseurin Yoon Ga-eun. Er erzählt die Geschichte von Sun, die in die 4. Klasse geht und von ihren Klassenkameradinnen als Außenseiterin behandelt wird, u.a. weil sie aus einer ärmeren Familie kommt. Am Anfang der Sommerferien lernt Sun die zugezogene, zukünftige Mitschülerin Jia kennen, freundet sich unbeschwert mit ihr an und sie verbringen mit viel Spaß die Ferien zusammen. Endlich eine Freundin! Als die Schule wieder beginnt, wird Jia von den beliebten Schülerinnen der Klasse vereinnahmt und lässt die Freundschaft zu Sun fallen. Auch Jia hat schon eine Schulvergangenheit hinter sich, in der sie von Mitschülerinnen schlecht behandelt wurde. Nach einer heftigen Auseinandersetzung, bei der beide Mädchen jeweils Geheimnisse der anderen verraten, fallen beide bei den Klassenkameradinnen in Ungnade und es bleibt offen, ob die Freundschaft der beiden eine zweite Chance bekommt.
Der Film erzählt seine emotionale Geschichte über eine Mädchenfreundschaft mit hellen Bildern, vielen Nahaufnahmen und langen, ruhigen Einstellungen. Vielleicht sind sie zu lang und zu ruhig, denn einige der Jungs in der Reihe vor uns müssen sich am Ende erstmal aus der Horizontalen aufrichten und ihre als Kopfkissen genutzten Jacken zurechtrücken. Andere Kinder wiederum schauen dem Film gebannt zu und lassen sich vollkommen auf die Handlung ein.
Uns als Erwachsene gefiel, wie Wooredeul die Dynamik von Kinderfreundschaften und die damit verbundene Achterbahnfahrt der Gefühle einfängt. Aber es ist ein Kinderfilm und daher interessiert uns in einer Gesprächsrunde mit den Schülerinnen und Schülern mit welchen Gefühlen sie ihn aufgenommen haben. Dabei fallen die ersten spontanen Reaktionen recht ernüchternd aus: „Ich fand ihn nicht so gut, weil er recht langweilig war und deswegen bin ich eingeschlafen“, berichtet der 10-jährige Bruno. Und Vincent liefert die dazu passende Begründung: „Ich hätte es besser gefunden, wenn da ein bisschen mehr Action drin gewesen wäre.“ Die Jungen der Klasse vermissen generell ein paar Wendungen in der Geschichte.
In den Urteilen der Mädchen ist eine größere Anteilnahme zu spüren. Offenbar berühren sie die gezeigten Auseinandersetzungen sehr viel stärker: „Ich fand den Film ganz okay, aber mir hat nicht gefallen, dass die Mädchen so zickig waren. Die haben sich die ganze Zeit nur fertig gemacht“, meint Carlis. Helena gefällt der Film gut: „Ich fand die Freundschaft der beiden schön dargestellt. Deshalb habe ich mich über ihre Freundin Jia so geärgert, als sie ihren verlogenen Charakter gezeigt hat.“
Über den Schluss des Films, der offen lässt, ob die beiden Mädchen ihre Differenzen beilegen und wieder Freundschaft schließen, herrscht allgemeines Unverständnis bei Mädchen und Jungen gleichermaßen. „Ich finde, das Ende hätten sie ein bisschen abschließender machen sollen, nicht so offen lassen“, meint Jay und Vincent ergänzt: „Es wäre schön gewesen, wenn die beiden sich wieder versöhnt hätten.“ Nur Feline „mag offene Enden!“
Die Ausgrenzung von Sun durch ihre Mitschülerinnen bezeichnen die Kinder sehr deutlich als „Mobbing“. Wir wollen von den Kindern wissen, ob der Film in diesen Szenen etwas beschreibt, was sie aus ihrem eigenen (Schul-)Alltag kennen. „Ja, das mit dem Mobbing gibt es leider auch bei uns“, meint Pauline. „Also ich finde das schon ziemlich krass, dass man gleich als Außenseiter gilt, wenn man kein Handy hat. Ein Handy ist ja nicht zum Leben wichtig. In unserer Klasse ist das nicht so, dass man sich hinter dem Rücken der anderen lustig macht“, stellt Luise fest. „Es gibt bei uns nämlich nicht so feste Gruppen“, ergänzt Ava. Knut findet, dass der Film die Konflikte besonders hart darstellt, „aber im Prinzip so was auch schon im Alltag passieren kann.“ Und Feline fasst zusammen: „Nein, das ist uns überhaupt nicht fremd. Mobbing gibt es doch in allen Ländern, oder?“
Einige Mädchen denken darüber nach, ob der Film nicht Klischees von weiblichem Verhalten verfestigt: „Ich finde es eine Unverschämtheit, Mädchen so darzustellen, als ob sie sich ständig streiten würden, ständig die Freunde wechseln, über andere lästern und sich gegenseitig fertig machen. Und mich würde es interessieren, ob das vielleicht in Korea häufiger so ist. Vielleicht hat man dort so ein Bild von Mädchen?“, fragt sich Luise. „Es wird immer so dargestellt, dass Mädchen sich anzicken und Jungs sich gleich prügeln. Aber das stimmt so nicht! Jungs zicken sich genauso an, die prügeln nicht immer gleich los“, findet Ava.
Mit Suns zurückhaltendem, eher beobachtendem Verhalten in Konfliktsituationen haben manche Schülerinnen und Schüler so ihre Probleme: „Wenn ich dieses Mädchen gewesen wäre, dann würde ich auf jeden Fall zu der Clique gehen und mal sagen, dass sie das lassen sollen. Und wenn sie mich beleidigen, dann würde ich nicht einfach weggehen und mir das gefallen lassen. Ich würde mich früher wehren“, meint Rosa. Auch Luna findet, dass Sun zu inaktiv bleibt: „Wenn ich sie wäre, würde ich zugreifen …, würde sie fragen: ‚Was findest du blöd an mir? Wollen wir das nicht besprechen?‘.“ Dagegen ist Knut der Meinung, dass das vielleicht schwieriger ist, als man es sich vorstellt: „Ich habe manchmal genau das umgedrehte Gefühl gehabt. Ich dachte nicht, ‚Jetzt mach doch mal!‘, sondern fand eher, dass das jetzt aber wirklich ganz schön mutig von ihr war.“
Die Lieblingsfigur aller Kinder war Suns viel kleinerer Bruder Yoon, der immer wieder Opfer eines zu aggressiv spielenden Gleichaltrigen ist. Letztlich entwickelt er aber eine ganz pragmatische Haltung zu Streitigkeiten innerhalb einer Freundschaft, die Helena schön zusammenfasst: „Ich fand es toll, als der kleine Bruder zu Suns Vorschlag, er solle zurückschlagen und sich wehren, gefragt hat: ‚Aber wann spielen wir dann?‘ Das Spielen ist ihm nämlich wichtiger als das ständige Streiten.“ Und in der Tat zählt dieser Moment zu den kleinen, aber beeindruckenden Augenblicken des Films, wenn Yoon, nachdem er Prügel einstecken muss, mit seinem Freund ganz normal weiterspielt, als sei nichts gewesen.
So ein ruhig erzählter Film bei der Berlinale Generation ist sicher kein Spektakel, aber doch ein Erlebnis. Den Film auf einem Festival, in einem besonderen Rahmen und mit anschließendem Filmgespräch sehen zu können, hatte auch auf unsere Schülerinnen und Schüler eine gewisse Wirkung, und so wurde letztlich auch nach dem Gespräch mit uns, während der Heimfahrt im Bus, noch angeregt weiter diskutiert.