Eigentlich liegt das Filmfest Hamburg für mich äußerst ungünstig. Im Oktober – kurz vor der Buchmesse, die traditionell mit der „wir brauchen das noch vor der Buchmesse“-Deadline verbunden ist – bin ich arbeitsmäßig bereits sehr gut ausgelastet. Deshalb überlege ich jedes Jahr, ob ich wirklich nach Hamburg fahren soll. Aber aus zwei Gründen fahre ich dann doch immer hin: Zum einen ist das Filmfest Hamburg für mich die Möglichkeit, die Cannes-Filme, die nicht beim Filmfest München gezeigt wurden oder bereits einen regulären Kinostart hatten, endlich zu sehen. In diesem Jahr waren es Filme wie Graduation, Personal Shopper und insbesondere Andrea Arnolds American Honey, auf den ich mich sehr gefreut habe.
Die britische Filmemacherin hat bereits mit Fish Tank und auch Wuthering Heights gezeigt, dass sie von den Problemen und Nöten junger Menschen in beeindruckender Bildsprache erzählen kann. Auch American Honey macht hier keine Ausnahme.
Der Film folgt der 18-jährigen Star (Sasha Lane), die sich eines Tages einer Drückerkolonne um den charismatischen Jake (Shia LaBeouf) und Krystal (Rile Keough) anschließt, die Zeitungsabos verkauft. Sie erhofft sich von dieser Truppe aus Herumtreibern und perspektivlosen Gleichaltrigen Gemeinsamkeit und natürlich Geld, um ihrem eigenen trostlosen Dasein zu entkommen. Während diese Gruppe nun durch die USA fährt, erzählt Andrea Arnold nicht nur von diesen Heranwachsenden, sondern auch dem wirtschaftlichen Wandel der vorigen Jahre, von den armen und neureichen Weißen im Mittleren Westen. Dabei filmt Kameramann Robbie Ryan diese Erlebnisse im Format 4:3 mit knalligen Farben, bleibt oft nah an Star und fängt Momente fast beiläufig ein, so dass seine Bilder fast dokumentarisch und – so widersprüchlich es klingen mag – gleichsam poetisch sind. Ergänzt wird diese beeindruckende Visualität von einem sehr guten Soundtrack, der mich seither fast in Dauerschleife begleitet.
Zum anderen ist Hamburg ein Filmfestival, bei dem überdurchschnittlich viele nordeuropäische Filme laufen: in diesem Jahr waren es neun aus Norwegen, Schweden, Finnland und Island, zusammen mit dem Baltikum sogar elf. Einige dieser Titel werden sicherlich auch bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck zu sehen sein, aber erstens nicht alle Filme, zweitens schaffe ich mir damit bereits jetzt ein wenig Spielraum für die Lübeckplanung und habe drittens eine zusätzliche Möglichkeit, Produktionen aus einem meiner Spezialgebiete zu sehen.
Dabei schlossen die gezeigten Filme fast nahtlos an die Eindrücke der vorigen Jahre an: Die norwegische Filmindustrie setzt weiterhin auf überteuerte Hochglanzproduktionen mit konventionellem Drehbuch und im Fall von Das Löwenmädchen enttäuschendem Ergebnis, während sich die dänischen Filme in guter Form zeigten. Bei dem Publikum kam dabei insbesondere Der kommer en dag (The Day Will Come) sehr gut an: Basierend auf wahren Ereignissen wird die Geschichte eines Waisenhauses in Dänemark in den 1960er-Jahren erzählt, in das die Brüder Elmer (Harald Kaiser Hermann) und Erik (Alberd Rudbeck Lindhardt) kommen, als ihre alleinerziehende Mutter an Krebs erkrankt. Fortan werden sie von den älteren Heimkindern, dem Lehrpersonal und dem Leiter des Waisenhauses (Lars Mikkelsen) schikaniert und misshandelt.
Die Zustände in Erziehungsanstalten sind regelmäßig Thema in Filmen, deshalb ahnt man sehr früh, was einen erwartet.
Aber diesem Film gelingt es innerhalb des konventionellen Handlungsverlaufs immer wieder eigensinnige Momente zu setzen – und vor allem auch aufzuzeigen, wie ein solches System über Jahre hinweg Bestand haben kann. Der Lohn für eine berührende und aufrüttelnde Geschichte war am Ende dann der Publikumspreis.
Den Hamburger Produzentenpreis hat hingegen ein Film erhalten, über den ich bereits in Locarno geschwärmt habe: Scarred Hearts von Radu Jude.
Es hat mich sehr gefreut, dass der Film nun auch in Hamburg lief – und es würde mich noch mehr freuen, wenn er einen regulären Verleih bekommt. Das rumänische Kino gehört zweifellos derzeit zu den spannendsten Kinoländern Europas – das zeigt auch der Preis der Filmkritik für Graduation von Cristian Mungiu – und sollte deshalb hierzulande nicht nur auf Festivals zugänglich sein.